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# Cultural Evolution {#cultural-evolution}
## Definition und Geschichte
Die Grundaussage der *Cultural Evolution Theory* ist, dass die Prozesse der natürlichen Entwicklung von Spezies durch Evolution auch bei der menschlichen Kulturentwicklung wirken. Mechanismen der Evolution wie *Selektion* und *Mutation* wären entscheidend dafür, welche Verhaltensweisen, Ideen und Innovationen sich langfristig durchsetzen könnten. Entsprechend könnte biologische Terminologie und Modellbildung -- zumindest eingeschränkt -- auch in anthropologischen Kontexten sinnvoll eingesetzt werden.
*Cultural Evolution Theory* wird in der archäologischen Fachliteratur vor allem als *Darwinian Archaeology* oder *Evolutionary Archaeology* diskutiert. Daneben gab und gibt es in der Forschungsgeschichte eine ganze Reihe weiterer Begriffe und Schulen, die mit dem Evolutionsbegriff verknüpft sind. Es handelt sich um kein rein archäologisches Forschungsgebiet: Unter anderem Verhaltensbiologie, Neurologie, Genetik, Soziologie und alle anthropologischen Fächer sind inhaltlich involviert und haben sich an dieser Diskussion beteiligt. Die Übertragung biologisch-evolutiver Wirkmechanismen zur Erklärung menschlichen Verhaltens war bereits Gegenstand der akademischen Debatte, lange bevor Charles Darwins (\*1809 -- \†1882) Evolutionstheorie mit den Standardwerken *On the Origin of Species*^[@Darwinoriginspeciesmeans1859] und *The Descent of Man*^[@Darwindescentmanselection1871] in Fachwelt und Öffentlichkeit verarbeitet wurden^[@petermann_geschichte_2004, 501-502.]: Parallel zur Entwicklung der *Evolutionsbiologie* in den Naturwissenschaften -- allerdings mit allgemein geringen Wechselwirkungen -- wurde Evolutionstheorie im wissenschaftlichen Diskurs der Sozialwissenschaften reflektiert. Eine erste wesentliche Spannungslinie, die hier betrachtet werden muss, reicht von *Evolutionismus* und *Sozialdarwinismus* über *Kulturrelativismus* und *Neoevolutionismus* hin zu *Evolutionary Psychology*, *Human Behavioural Ecology* und *Dual Inheritance Theory*. Diese forschungsgeschichtliche Entwicklung hat in der archäologischen Theoriediskussion große Wirkung entfaltet und ist untrennbar mit der Geschichte des gesamten Faches verknüpft. Sie bildet die Grundlage der modernen *Evolutionary Archaeology*.
### Evolutionsbiologie: Von Darwinismus zu Erweiterter Synthese {#biology}
Die biologische Forschung ist nicht bei Charles Darwin stehen geblieben sondern hat sich über die Korrekturen im *Neo-Darwinismus* um 1890, über die *Synthetische Theorie der biologischen Evolution* um 1940 und die *Erweiterte Synthetischen Theorie* ab dem Ende der 1990er bis in die Gegenwart weiterentwickelt. Ende des 19. Jahrhunderts wurden wesentliche Aspekte der biologischen Evolutionstheorie noch kontrovers diskutiert^[@bowler_evolution_1989, 188-202.]. Insbesondere der Streit zwischen darwinistischer Evolution durch Selektion und *lamarckistischer Evolution* durch Vererbung erworbener Eigenschaften war nicht entschieden. Jean-Baptiste de Lamarck (\*1744 -- \†1829) war zwar weitestgehend überholt, aber sein Adaptionsgedanke lebte in *Neo-Lamarckismus*^[@bowler_evolution_1989, 236-247.] und *Orthogenese*^[@bowler_evolution_1989, 247-250.] fort, die als Alternativen für den vor allem von August Weismann (\*1834 -- \†1914) und Alfred Russel Wallace (\*1823 -- \†1913) propagierten *Neo-Darwinismus*^[@bowler_evolution_1989, 251-260.] diskutiert wurden. Weismann vertrat einen dogmatischen *Selektionismus* und führte mit der *Keimplasmatheorie* eine Erklärung für Vererbung ein, die wichtige Aspekte der Genetik vorwegnahm und lamarckistische Adaption ausschloss. Die frühe *Genetik* ging jedoch nicht aus darwinistischem Selektionismus hervor. Stattdessen wurde die Wiederentdeckung der bereits von Gregor Mendel (\*1822 -- \†1884) 1866 publizierten *Mendelschen Vererbungsregeln* um 1900 vor allem im Kontext der *Saltationstheorie* diskutiert, die nicht Selektion, sondern tiefgreifende, spontane Mutationen als Motor der Evolution favorisierte^[@bowler_evolution_1989, 260-261.]. Ein bekannter, streitbarer Vertreter dieser Schule war William Bateson (\*1861 -- \†1926). Er prägte den Begriff *Genetik* und trug maßgeblich zur Popularisierung der Mendelschen Regeln bei. Ihm entgegen stand die ebenfalls noch junge Wissenschaft der *Biometrie*, die statistische Methoden zur Untersuchung von Populationen einführte und die Bedeutung von Selektion hervorhob. Darwins Cousin Francis Galton (\*1822 -- \†1911) gilt als Vorreiter dieser Strömung, vertrat aber eine fehlerhafte, inkohärente Vererbungslehre. Erst Nachfolgern wie Walter Frank Raphael Weldon (\*1860 -- \†1906) und Karl Pearson (\*1857 -- \†1936) gelang der Nachweis, dass Selektion zu nachhaltiger Veränderung in Populationen führen kann^[@bowler_evolution_1989, 256-260.]. Die Debatte um den genauen Mechanismus der Evolution war entscheidend für die Biologie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert -- die Interdependenzen von Mutation, Adaption und Selektion waren noch nicht verstanden.
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde Hugo de Vries (\*1848 -- \†1935) *Mutationstheorie* die in Fachkreisen am weitesten verbreitete Evolutionstheorie. Nach de Vries funktioniert Mutation wie in der *Saltationstheorie* als schnelles Hervorbringen neuer, vollständiger Varianten, die dann durch Selektion sortiert werden. Viele seiner Anhänger verwarfen die Notwendigkeit für Selektion jedoch -- so z.B. Thomas Hunt Morgan (\*1866 -- \†1945) oder Wilhelm Johannsen (\*1857 -- \†1927), die moralisch und inhaltlich gegen eine tragende Rolle von Selektion argumentierten und gleichzeitig wesentliche Beiträge zur Definition der Vererbungseinheiten im Kontext der noch jungen *Genetik* leisteten. Morgans Forschung an Fruchtfliegen führte zu einem signifikant besseren Verständnis von Vererbung, das den langen Konflikt zwischen Mendelianern und Biometrikern effektiv löste. Ab 1920 setzten sich in Großbritannien und den USA *Präformationslehre* und die Mechanismen *Natürliche Selektion* und kleinteilige, zufällige *Mutation* als die wesentlichen, theoretischen Grundlagen der Evolution der Arten durch, nachdem alle anderen zuvor diskutierten Theorien weitestgehend ausgeschlossen worden waren. In einzelnen Fachbereichen und in Kontinentaleuropa wurden alternative Ansätze -- insbesondere *lamarckistische Evolution* -- allerdings noch wesentlich länger diskutiert und gelehrt^[@bowler_evolution_1989, 268-273.]. Der nun folgende Prozess der Konsolidierung und Vereinheitlichung der Evolutionstheorie in allen Subdisziplinen der Biologie dauerte bis in die 1940er Jahre an und wird als *Synthese* bezeichnet. Sie entwickelte sich aus einem langjähriger akademischen Diskurs in vielen wesentlichen Publikationen. Letztlich ging aus ihr die moderne Evolutionsbiologie hervor und viele Bereiche wie Paläontologie, Populationsbiologie und die botanische und zoologische Feldforschung erhielten deutliche Anstöße -- auch zur Quantifizierung und Systematisierung von Forschung. Die *Synthese* wurde von Protagonisten wie Julian S. Huxley (\*1887 -- \†1975), Sewall G. Wright (\*1889 -- \†1988), Ronald A. Fisher (\*1890 -- \†1962), John B. S. Haldane (\*1892 -- \†1964), Theodosius G. Dobzhansky (\*1900 -- \†1975), Bernhard Rensch (\*1900-\†1990), Edmund B. Ford (\*1901 -- \†1988), George G. Simpson (\*1902 -- \†1984) und neben vielen anderen vor allem Ernst Mayr (\*1904 -- \†2005) getragen. Trotz ihrer augenscheinlich anregenden Wirkung verblieb berechtigte Kritik an der *Synthetischen Evolutionstheorie*: Der rigide durchgesetzte Schwerpunkt auf Selektionismus auf Darwinismus führte etwa zunächst zu einer globalen Ablehnung später rehabilitierter Phänomene wie zum Beispiel *Genetischer Drift*^[@bowler_evolution_1989, 325-327 & 333-339.].
Ab den späten 1990ern und besonders nach der Jahrtausendwende wurde immer häufiger der Wunsch nach einer Erneuerung des Paradigmas der *Modernen Synthese* artikuliert. Die Methoden und Erkenntnismöglichkeiten der biologischen Subdisziplinen hatten sich massiv weiterentwickelt, und es schien sinnvoll, die alten Maximen zu ersetzen oder zumindest zu erweitern. Die Diskussion um diese *Erweiterte Synthese* hält bis in die Gegenwart an. Wesentliche Konzepte, die die alte *Synthese* noch nicht kennen konnte, sind zum Beispiel *Evolvierbarkeit*^[@wagner_robustness_2013], *phänotypische Plastizität*^[@pigliucci_phenotypic_2001] oder der neue aufgegriffene Fachbereich der Evolutionären Entwicklungsbiologie (*EvoDevo*)^[@muller_evodevo_2007]. Ihre Integration und die Reflexion über die Mechanismen der Artenentwicklung wird auch in Zukunft Gegenstand der biologischen Fachdiskussion bleiben^[@pigliucci_elements_2010].
### Evolutionismus und Sozialdarwinismus
Klassischer *Evolutionismus* ist ein Überbegriff für die erste Übertragung biologischer Evolutionsforschung auf die Kulturgeschichte. Er betont den Aspekt des schrittweisen, kulturellen Aufstiegs und der Zunahme organisatorischer Komplexität. Zivilisation hätte sich über mehrere Fortschrittsstufen von einem primitiven Urzustand zur modernen Industriegesellschaft weiterentwickelt. Die Beschreibung einer Kultur kann vor diesem Hintergrund in sehr einfachen Begriffen und mit wenigen Parametern erfolgen^[@noauthor_evolutionismus_1986]. Bei der ersten Formulierung Evolutionistischer Theorie hat Darwin nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Protagonisten wie Herbert Spencer (\*1820 -- \†1903) und John Lubbok (\*1834 -- \†1913) orientierten sich stärker an Charles Lyell (\*1797 -- \†1875), der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den geologischen Schlüsselprinzipien *Aktualismus* (rezente, natürliche Phänomene haben so auch in der Vergangenheit stattgefunden) und *Gradualismus* (geologischer Wandel ist langsam und stetig) wesentliche Grundlagen für die Evolutionsforschung gelegt hatte. Die Prinzipien gaben der stratigraphischen Vergesellschaftung menschlicher Skelettüberreste mit pleistozänen Tierknochen eine neue Bedeutung, die eine auf breiter Front *Vergleichende Methode* rechtfertigte. Damit wurden vorgeschichtliche Gesellschaften dem Vergleich mit 'primitiven', rezenten Gesellschaften zugänglich. Evolutionismus konzentrierte sich nicht auf Mechanismen der Evolution wie Mutation und Selektion, sondern griff ein dem Kapitalismus entlehntes Konzept von Wettbewerb und Weiterentwicklung der Kulturen auf, das durch Vergleich mit rezenten Gesellschaften und deren Organisationsgrad versteh- und kategorisierbar geworden war. Die Evolutionisten bildeten keine kohärente Schule. Stattdessen wurde eine Gruppe von Individuen -- maßgeblich Lewis Henry Morgan (\*1818 -- \†1881), Herbert Spencer, John Ferguson McLennan (\*1827 -- \†1881), Edward Burnett Tylor (\*1832 -- \†1917) und John Wesley Powell (\*1834 -- \†1902) -- abschätzig von Gegnern mit diesem Begriff belegt. Dem Evolutionismus wurde vorgeworfen, die Aussagekraft materieller Kultur über die soziale Organisation vorgeschichtlicher Gesellschaften positivistisch überbewertet zu haben. *Konjekturalgeschichte* und *Vergleichende Methode* hätten zu einer Perspektive unlinearer Entwicklung geführt, die durch Stufengliederung der Menschheitsgeschichte kulturelle Vielfalt unangemessen reduziert und durch die Konzentration auf progressive Entwicklungsabläufe zu falschen ethnologischen Beobachtungen geführt habe^[@petermann_geschichte_2004, 464-474, 734.]. Zuletzt wäre die vorgenommene Abgrenzung von Entwicklungsstadien mit einer Teleologisierung -- also der Erklärung als gerichtete Entwicklung -- auf die moderne, westliche Gesellschaft verbunden und damit Grundlage einer Rechtfertigung von Rassismus, Eurozentrismus und Imperialismus. Damit wurde der Begriff *Sozialdarwinismus* assoziiert^[@ShennanGenesmemeshuman2002, 11.].
*Sozialdarwinismus* ist ebenso wie Evolutionismus keine kohärente wissenschaftstheoretische Schule, sondern eine polemische Zuschreibung wissenschaftlicher, ideologischer und politischer Gegner. Die heftige Kontroverse, die rund um die Evolutionstheorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand, wurde von Propagandisten wie Thomas Henry Huxley (\*1825 -- \†1895) (*Darwin's Bulldog*) oder, im deutschsprachigen Raum, Ernst Haeckel (\*1834 -- \†1919) getragen. Die Erkenntnisse hatten Konsequenzen für fundamentale weltanschauliche Fragen -- entsprechend wurde die Diskussion von der Presse aufgegriffenen und einer breiten Öffentlichkeit präsentiert. Das hatte starke, oft unangemessene Vereinfachungen der Themenstellung zufolge. Die Reduktion von Evolutionstheorie auf griffige Phrasen wie *Survival of the Fittest* und *Natural Selection* wirkte sich schließlich auch auf den Diskurs in den Sozialwissenschaften aus. Spencer entwickelt in seinem Hauptwerk *The Principles of Sociology*^[@SpencerHerbertSpencerPrinciples1898] das Narrativ eines evolutionären Kampf ums Dasein, der nur in den jüngsten Phasen der Menschheitsgeschichte von Altruismus begleitet wird^[@petermann_geschichte_2004, 501-510.]. Diese sozialphilosophische Theorie fiel im Klima der fortgeschrittenen Industrialisierung und deren Konkurrenzgesellschaft auf fruchtbaren Boden. Noch heute wirkt der Gedanke eines Überlebenskampfs im marktwirtschaftlichen Geschehen nach und hat sich etwa über christliche Prädestinationslehre zu jenem traditionell amerikanischen Topos stabilisiert, der sich politisch gegen staatliche Eingriffe ins Wirtschaftssystem und für individuelle, zwischenmenschliche Solidarität ausspricht. Spencer beeinflusste eine ganze Reihe amerikanischer Ethnologen und Soziologen^[@smith_cultural_1992, 62.], darunter William Graham Sumner (\*1840 -- \†1910), Lester Frank Ward (\*1841 -- \†1913) und Franklin Henry Giddings (\*1855 -- \†1931). Sie teilten Spencers Verständnis biosozialer Evolution und deren empirisch-positivistischer Erforschbarkeit, jeder repräsentiert gleichermaßen aber gegensätzliche Ansichten darüber, wie stark die evolutiven Prozesse menschliche Gesellschaften determinieren. Europas Sozialdarwinisten waren keine *Spencerianer*, dafür aber umso stärker Theorien radikal-biologischen und rassistischen Existenzkampfs verpflichtet. Zu nennen sind unter anderem Gustav Ratzenhofer (\*1842 -- \†1904), Jakov Novicov (\*1849 -- \†1912), Michelangelo Vaccaro (\*1854 -- \†1937) und besonders der jüdisch-polnische Jurist und Soziologe Ludwig Gumplowicz (\*1838 -- \†1909), der mit seinem wissenschaftlichen Rassismus in einer Rede im September 1933 von Adolf Hitler fast wörtlich zitiert wurde^[@petermann_geschichte_2004, 511-524.]:
> Nie und nirgends sind Staaten anders entstanden als durch Unterwerfung fremder Stämme seitens eines oder mehrerer verbündeter oder geeinigter Stämme.
>
> -- @GumplowiczGrundrissSoziologie1885, 99.
Ein wichtiger Antrieb für Sozialdarwinistische Theorie war die biometrische Forschung von Galton, der intellektuelle Fähigkeit als eine maßgeblich biologisch vererbbare Eigenschaft beschrieb. Ethnische Herkunft hielt er in einer Form von Rassenlehre für das entscheidende Kriterium für die Intelligenz eines Individuums. Er sprach sich in dieser Konsequenz für bewusste Zuchtwahl beim Menschen aus und prägte den Begriff *Eugenik*^[@bowler_evolution_1989, 256-257.].
### Kulturrelativismus und Neoevolutionismus {#cultural-relativism-neoevolutionism}
Kritiker des Evolutionismus in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts waren Vertreter der britischen *Social Anthropology*, deutscher *Kulturgeschichte* und vor allem der von Franz Boas (\*1858 -- \†1942) etablierten, amerikanischen *Kulturanthropologie*. Die Gemeinsamkeit dieser Schulen und Strömungen liegt an ihrem traditionellen Fokus auf den jeweiligen naturräumlichen, historischen und soziopolitischen Kontext einzelner kultureller Ausprägung. Boas war Jude, absolvierte ein naturwissenschaftliches Studium in Deutschland und emigrierte nach seiner Zuwendung zur Ethnologie in die USA. Er gilt als Begründer des *historischen Partikularismus*, der sich gegen deduktive, umfassende Erklärungsmodelle wie Evolutionismus und Diffusionismus wandte. Letzterer hatte sich parallel zu ersterem vor allem in Europa aus den Arbeiten von Friedrich Ratzel (\*1844 -- \†1904), Leo Frobenius (\*1873 -- \†1938) -- Gründer der Kulturkreislehre -- sowie Hermann Baumann (\*1902 -- \†1972), Gustaf Kossinna (\*1858 -- \†1931) und verschiedenen Autoren der *Wiener Schule* der Völkerkunde herausgebildet. Boas verwarf diese Weltmodelle, die ihnen zugrunde liegende *Vergleichende Methode* und ihre Analogieschlüsse und betonte stattdessen eine genaue, empirische Detailanalyse von Einzelphänomenen. Dabei war Boas Forschungsansatz im Sinne des *four-field approach*, der Ethnologie, Archäologie, Linguistik und Physische Anthropologie zusammenführt, breit aufgestellt. Methodisch vielfältige und empirisch fundierte aber gleichzeitig zeitlich und räumlich eng begrenzte Fallstudien sollten den Weg zu einer induktiven Kulturwissenschaft ebnen. Boas begründete damit eine Phase intensiver Datenaufnahme in der amerikanischen Anthropologie (*Salvage Ethnography*), die seine Kritiker wiederum als theorielos verurteilten. 1911 erschien sein Werk *The mind of Primitive Man*^[@Boasmindprimitiveman1911], das die wichtigsten Thesen seines *Kulturrelativismus* zusammenfasst: Es wendet sich gegen biologischen Determinismus, betont den Einfluss von *Social Learning* und hebt die Multikausalität historischer Entwicklungen hervor. Kultur sei abhängig von einer Vielzahl natürlicher und zwischenmenschlicher Parameter. Diese Relativität nahm der uniliniearen Gliederung von Kulturzuständen des Evolutionismus die Grundlage. Andererseits enthielt Boas modernes Verständnis der Interaktion zwischen Gruppen bereits Grundaussagen der *Cultural Transmission Theory*^[@obrien_epistemological_2002] (siehe Kapitel \@ref(cultural-transmission)). Boas war ein politischer Mensch und argumentierte mit Kulturrelativismus gegen Rassismus und Faschismus^[@petermann_geschichte_2004, 643-655.]. Schüler von Boas (*Boasianer*) wie Clark Wissler (\*1870 -- \†1947), Elsie Clews Parsons (\*1875 -- \†1941), Alfred Kroeber (\*1876 -- \†1960), Alexander Goldenweiser (\*1880 -- \†1940), Robert Lowie (\*1883 -- \†1957), Paul Radin (\*1883 -- \†1959), Edward Sapir (\*1884 -- \†1939) prägten die amerikanische Ethnologie nachhaltig und führten über Jahrzehnte einen erbitterten Diskurs mit Evolutionisten und Neoevolutionisten^[@petermann_geschichte_2004, 654-688.].
*Neoevolutionismus* -- der Begriff wiederum eine Fremdzuschreibung -- bezeichnet eine Strömung, die als Reaktion auf berechtigte Kritik am Evolutionismus in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts und insbesondere nach dem 2. Weltkrieg an Dynamik gewann. Sie verbindet Ansätze, die sich zwar sozialdarwinistischem Biodeterminismus verweigern, andererseits aber dennoch bewusst nach Gesetzmäßigkeiten soziokultureller Prozesse suchen, um der Anthropologie ein höheres Abstraktionsniveau zu erschließen. Aus dieser Definition heraus lassen sich dem Neoevolutionismus einige der bedeutendsten Ethnologen und Archäologen zuordnen: Vere Gordon Childe (\*1892 -- \†1957), Karl Wittfogel (\*1896 -- \†1988), George Murdock (\*1897 -- \†1985), Leslie White (\*1900 -- \†1975) und Julian Haynes Steward (\*1902 -- \†1972). Auch die Arbeit einer nachfolgenden Generation mit Protagonisten wie Elman Service (\*1915 -- \†1996), Morton Fried (\*1923 -- \†1986), Roy Rappaport (\*1926 -- \†1997), Marshall Sahlins (\*1930) oder Lewis Binford (\*1931 -- \†2011) ist stark von neoevolutionistischem Denken geprägt.
Vere Gordon Childe, ursprünglich Philologe aus Australien, etablierte sich in Europa durch seine großen, synthetischen Werke als Prähistoriker. Ihm gelang es, die Gliederung der Menschheitsgeschichte in Entwicklungsphasen -- Childe griff Morgans Unterscheidung von Wildheit, Barbarei und Zivilisation auf -- durch einen multilinearen Ansatz neu zu beleben und in kohärenten, archäologischen Narrativen (z.B. *The Dawn of European Civilization*^[@childe_dawn_1925], *Man Makes himself*^[@childe_man_1936] oder *Social Evolution*^[@childe_social_1951]) nutzbar zu machen. Als überzeugter Marxist etablierte er den Topos *vorgeschichtlicher Revolutionen*, der Marx *Historischen Materialismus* weiterentwickelt und konkretisiert. Childes Kritiker waren zunächst vor allem jene Spezialisten, deren Forschung er in seinen Büchern zusammenzufassen und zu vereinfachen auf sich genommen hatte. Der deutsche Soziologe und Sinologe Karl Wittvogel beschäftigte sich mit dem Einfluss von Bewässerungssystemen im Entstehungsprozess früher Hochkulturen. Mit seiner Studie zu *Hydraulischen Gesellschaften*^[@wittfogel_oriental_1957] hat er ein einflussreiches, evolutionistisches Werk vorgelegt, das Staatenbildung und die Herausbildung der Hierarchie des *orientalischen Despotismus* mit Verwaltungsnotwendigkeiten von Bewässerungssystemen erklärt. Wittvogels Theorie hat bemerkenswerte Rezeption erfahren und wurde in eine Vielzahl anderer Kulturzusammenhänge hineinprojiziert. George Murdock war ein Vorreiter der *Cross-Cultural Analysis* und Begründer der *Human Relations Area Files*^[http://hraf.yale.edu [28.01.2018]]. Dieses Archiv, 1949 aus einer von Murdock entwickelten Sammlung hervorgegangen, enthält strukturierte Informationen und Literaturlisten zu Kulturmerkmalen vieler hundert -- meist indigener -- Gesellschaften und wird bis heute gepflegt. Murdocks *transkultureller Vergleich* basiert auf evolutionistischer Grundlage und ist stark von quantitativer Auswertung mit ethnostatistischen Methoden geprägt: Sein Hauptwerk *Social Structure*^[@murdock_social_1949] analysiert und dokumentiert universelle Regeln und Gesetze sozialer Beziehungen anhand eines Datensatzes von 250 Ethnien. Im Kontext der Kritik am Evolutionismus wurde auch Murdock vorgeworfen, Kulturzüge unsachgemäß isoliert betrachtet oder einer solchen Betrachtung zugänglich gemacht zu haben. Der amerikanische Ethnologe Leslie White war einer der wichtigsten Protagonisten des Neoevolutionismus. Nach seiner Lektüre von Morgan und anderen Evolutionisten wie Spencer und Tylor suchte er explizit die Konfrontation mit dem vorherrschenden Partikularismus der Boasianer und stellte ihr eine umfassende, materialistische Kulturtheorie gegenüber. Diese würde objektiven Kulturvergleich im Sinne einer Wissenschaft der *Kulturologie* entlang einer evolutiven Skala des Pro-Kopf-Verbrauchs von Energie ermöglichen: *White's Law*^[@white_energy_1943, @white_science_1949]. White betonte die Bedeutung von Technologie und Wirtschaft für die Herausbildung von Sozialordnung und Ideologie, erkannte aber auch die einzigartige, symbolschaffende Kreativität des Menschen an. Kritiker werfen ihm vor, diesen impliziten Widerspruch niemals aufgelöst zu haben. Dennoch inspirierte Whites klare, regelbasierte Anthropologie eine Generation von Studierenden die sich im Kulturrelativismus nicht wiederfinden konnten. Neben White ist auch Julian Steward eine der tragenden Säulen des Neoevolutionismus. Steward veröffentlicht 1955 *Theory of Culture Change*^[@steward_theory_1955], wo er *Kulturökologie* als Wissenschaft von definierbaren Ursache-Wirkung Beziehungen von Natur- und Mensch jenseits des überholten *Kulturdeterminismus* formuliert. Sein Vorschlag zur Periodisierung der Ur- und Frühgeschichte folgt einem *multilinearen* Ansatz, der der *unilinearen* Abfolge von für alle Kulturen immer gleicher Zustandsformen die Analogentwicklung von *Kulturtypen* -- Typen der Umweltanpassung -- entgegenstellt. Unter bestimmten natürlichen und sozialen Bedingungen würden sich bestimmte Verhaltensmuster und Formen des Zusammenlebens ergeben, nicht aber mit zwingender Notwendigkeit oder in einer definierten Abfolge. Auch Steward bezog sich methodisch auf transkulturellen Vergleich, der es ermöglichen sollte, die primären, subsistenzbezogenen Eigenschaften von techno-ökonomischen *Kulturkernen* im Gegensatz zum Überbau der sekundären, variablen Charakterzüge von Kulturen zu definieren. Mehrere Protagonisten der noch jungen *New Archaeology* wurden von Stewards modernem, pragmatischem Evolutionismus stark beeinflusst^[@petermann_geschichte_2004, 734-761.].
### Moderne Theorien zur Kulturevolution {#evolutionism-modern-theories}
Eine neue Welle der Auseinandersetzung mit Kulturevolution gewann Mitte der 1970er Jahre an Dynamik^[@creanza_cultural_2017]. Sie lenkte das Interesse weg von Politik und Gesellschaftsstruktur, sondern abstrahierte auf die basalen Grundzüge menschlichen Denkens. Dieser Ansatz inkorporierte Ergebnisse und Methoden moderner, biologischer Verhaltensforschung und erlaubte neue Perspektiven jenseits des Evolutionismus und seiner Varianten. Von entscheidender Bedeutung für die Entstehung dieser Strömungen waren Edward Osborne Wilsons (\*1929) *Sociobiology: The New Synthesis*^[@WilsonSociobiologynewsynthesis1975] und Richard Dawkins (\*1941) *The Selfish Gene*^[@Dawkinsselfishgene1976], auf das unten genauer eingegangen wird (siehe Kapitel \@ref(memetics-dawkins))^[@SmithThreestylesevolutionary2000, 27.]. Auch Luigi Luca Cavalli-Sforza (\*1922), Marcus William Feldmann (\*1942) und andere entwickeln wesentliche Ansätze für den Brückenschlag zwischen Biologie und Anthropologie^[@alland_cultural_1972, @cavalli-sforza_models_1973, @feldman_models_1975, @feldman_cultural_1976, @blum_uncertainty_1978]. Um die Jahrtausendwende unterschied Eric Aldan Smith schließlich drei große Strömungen^[@SmithThreestylesevolutionary2000. Stephen Shennan greift diese Unterscheidung auf [@ShennanGenesmemeshuman2002, 15-18.]] in der Untersuchung menschlichen Verhaltens aus einer Evolutionsperspektive: *Evolutionary Psychology*, *Human Behavioural Ecology* und *Dual Inheritance Theory* (siehe Tabelle \@ref(tab:smiththreestyles)).
```{r smiththreestyles, echo=FALSE, tidy=FALSE, results = "asis"}
library(magrittr)
tibble::tribble(
~X1, ~`Evolutionary Psychology`, ~`Behavioural Ecology`, ~`Dual Inheritance Theory`,
"What is being explained:", "Psychological mechanisms", "Behavioural strategies", "Cultural Evolution",
"Key constraints:", "Cognitive, genetic", "Ecological, material", "Structural, information",
"Temporal scale of adaptive change:", "Long-term (genetic)", "Short-term (phenotypic)", "Medium-term (cultural)",
"Expected current adaptiveness:", "Lowest", "Highest", "Intermediate",
"Hypothesis generation:", "Informal inference", "Optimality models", "Population-level models",
"Hypothesis-testing methods:", "Survey, lab experiment", "Quantitative ethnographic observartion", "Mathematical modelling and simulation",
"Favoured topics:", "Mating, parenting, sex differences", "Subsistence, reproductive strategies", "Large-scale cooperation, maladaptation"
) %>%
knitr::kable(
caption = "Three Styles of Evolutionary Explanation nach \\textcite{SmithThreestylesevolutionary2000}",
format = "latex",
booktabs = T,
escape = F,
col.names = c("", "Evolutionary Psychology", "Behavioural Ecology", "Dual Inheritance Theory"),
linesep = "\\addlinespace"
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kableExtra::column_spec(3, width = "10em") %>%
kableExtra::column_spec(4, width = "10em") %>%
gsub("table", "table*", .)
```
**Evolutionary Psychology** konzentriert sich auf die Entwicklung des menschlichen Denkens vor dem Hintergrund seiner evolutionären Geschichte. Selektiver Druck habe zur Ausbildung spezialisierter Verhaltensmodule geführt, die in bestimmten Situationen bestimmte Reaktionen auslösen. Von entscheidender Bedeutung für die Entstehung dieser angepassten Verhaltensmodule sei die *Environment of Evolutionary Adaptiveness*, also die Umgebung, in der sich die menschliche Entwicklung maßgeblich abgespielt hat. Dabei bezieht sich die *Evolutionary Psychology* auf die Lebensrealität pleistozäner Jäger- und Sammlergruppen, in der der moderne Mensch den überwältigend größten Teil selektiv wirksamer Generationszyklen durchlebt hat. Die Selektionsparameter wären in diesem Zeitraum relativ stabil geblieben. In der Konsequenz seien Menschen heute beispielsweise ideal an das nomadische Leben in kleinen Gruppen in großer gegenseitiger Abhängigkeit adaptiert, Männer würden junge, gesunde und hübsche Sexualpartnerinnen bevorzugen und süße Speisen wären beliebt, weil Süße bei Früchten ein Indikator für Reife und Genießbarkeit ist. Alle Aspekte des Verhaltens seien auf bestimmte Gegebenheiten in der *Environment of Evolutionary Adaptiveness* optimiert und entsprechend schlecht für eine andere, etwa neolithische oder postneolithische Lebensweise geeignet^[@SmithThreestylesevolutionary2000, 27-29.]. Der *Evolutionary Psychology* wird vorgeworfen, die unangemessen vereinfachende Annahmen über vorgeschichtliches Verhalten zu treffen, ohne sich ausreichend mit jenen archäologischen Daten und Auswertungsergebnissen auseinanderzusetzen, die eine Rekonstruktion der tatsächlichen Lebensverhältnisse in der Vorgeschichte erlauben würden. Aus archäologischer Perspektive griff allen voran Steven Mithen Überlegungen der *Evolutionary Psychology* auf^[@Mithenprehistorymindsearch1996; @mithen_cognitive_1997].
**Human Behavioural Ecology** überträgt Ansätze aus der Verhaltensbiologie auf den Menschen^[@smith_cultural_1992; @winterhalder_analyzing_2000]. Dabei nimmt sie den klassisch-darwinistischen Standpunkt ein, menschliches Verhalten könnte ebenso wie tierisches als permanente Maximierung des Reproduktionserfolgs durch Selektion verstanden werden^[@creanza_cultural_2017]. Bewusste oder unbewusste Entscheidungen würden hinsichtlich der Frage getroffen werden, inwiefern das Ergebnis den Erhalt der eigenen genetischen Information gewährleistet. Im Zentrum steht dabei die Beziehung zwischen Mensch und natürlicher Umwelt: "Welche ökologischen Faktoren (z.B. Ressourcenverfügbarkeit, Populationsdichte, etc.) schaffen den Rahmen dafür, dass ein bestimmtes Verhalten (z.B. Altruismus, Vorratshaltung, etc.) zum Erfolg führt?". Die ökologische Nische des Menschen in Relation zu seinen Subsistenzstrategien, seinem Paarungsverhalten und seiner sozialen Struktur sind wesentliche Forschungsgegenstände der *Human Behavioural Ecology*^[@henrich_search_2001; @kaplan_theory_2000; @voland_evolutionary_1998; @winterhalder_risk-senstive_1999]. Die kleinteilige Aufgliederung der Fragestellungen hinsichtlich einzelner Situationen und Verhaltensweisen erlaubt es dabei, auch komplexe Fragen quantitativ in einfachen Modellen abzubilden. Diese Modelle versprechen testbare Aussagen: "Wenn Frauen ihre Sexualpartner nach dem Kriterium wählen, wer den Nachwuchs am besten versorgen kann, dann wäre die Anzahl der Frauen pro Mann proportional zu seinem Reichtum.". Die Reduktion auf direkte, kausale Beziehungen birgt jedoch die Gefahr die vielfältigen Interdependenzen einzelner Verhaltensweisen zu übersehen. Gerade Langzeitstudien spielen dafür eine wichtige Rolle^[@belovsky_optimal_1988; @broughton_widening_1997; @low_population_1993; @stiner_paleolithic_1999; @stiner_tortoise_2000; @winterhalder_population_1988]. Behavioural Ecology erklärt die Vielfalt menschlichen Verhaltens aus der großen Diversität biologischer- und sozialer Nischen, die sehr viele unterschiedliche Erfolgsstrategien erlaubt. Tatsächlich gäbe es sogar eine Korrelation zwischen Verhaltensvielfalt und Diversität der sozioökologischen Umwelt. Sie erlaubt sich eine große Vereinfachung, indem sie die Mechanismen, die zur Ausbildung einer Verhaltensanpassung führen, nicht hinterfragt: Die einschränkende Wirkung von Kultur (hier: vererbtes Verhalten) etwa in Form von Tradition sei untergeordnet, da erfolglose Strategien unabhängig davon in wenigen Generationen durch biologische Selektion aussterben würden. Diese bewusste, statistische Vereinfachung von Übergangsprozessen wird als *Phenotypic Gambit* bezeichnet (und kritisiert^[@rubin_phenotypic_2016]). In ihrer Konsequenz sei auch anzunehmen, dass der Mensch sein Verhalten schnell und gut an die revolutionären Veränderungen des Holozän oder der Industrialisierung angepasst habe^[@SmithThreestylesevolutionary2000, 29-31.].
**Dual Inheritance Theory** postuliert neben der Vererbung von Genen ein zweites Vererbungssystem von Ideen und Kulturmerkmalen. Auch diese würden von Generation zu Generation, von Person zu Person und von Tag zu Tag weitergereicht und stünden unter dem Einfluss von Selektion und Mutation. Dabei würde sowohl die im genetischen Vererbungssystem entscheidende, natürliche Selektion wirken als auch eine Selektion durch bewusste oder unbewusste Entscheidung der Träger von Ideen: Menschen. Ersterer Selektionsprozess sei Konsequenz der Rückwirkung von Ideen auf die Fitness ihrer Träger, letzterer ein System von Interdependenzen verschiedener Ideen, Umweltsituationen und genetischer Determinanten. Ebenfalls von entscheidender Bedeutung seien die zwischenmenschlichen Prozesse wie Erziehung, Gefolgschaft oder Freundschaft, die die Weitergabe von Ideen steuern. Entstehung neuer Ideen aus der Kombination vorhandener wäre eine Form der Mutation. Da nun also in der Kulturgeschichte Vererbung, Entstehung von Variabilität und Auswahl nach Fitnesskriterien als gegeben angenommen werden dürften, und damit große strukturelle Ähnlichkeit des genetischen und des kulturellen Vererbungssystems bestünde, sei auch die Übertragung neo-darwinistischer Methoden auf die Untersuchung von Kulturmerkmalen möglich. Die beiden Vererbungssysteme könnten unabhängig und in ihrer Interaktion erforscht werden, wobei Konzepte zur Erklärung des einen potentiell auch zur Erklärung im anderen geeignet sein könnten. Andererseits gäbe es auch klare Unterschiede: Beispielsweise erfolgt die Weitergabe genetischer Information fast ausschließlich vertikal durch sexuelle oder asexuelle Fortpflanzung, während Ideen beliebig horizontal weitergegeben werden, also unabhängig von Verwandschaft diffundieren können. Menschen sind zwar sowohl Träger vieler Gene als auch vieler Kulturmerkmale, erstere werden aber nur einmal festgelegt, während letztere ständigem Wechsel unterliegen. *Dual Inheritance Theory* ist sich dieser Unterschiede bewusst, hält sie aber für analytisch bewältigbar. Da die kulturelle Evolution in anderen zeitlichen, räumlichen und kausalen Maßstäben agieren würde, könnte diese Theorie auch das Auftreten von Verhaltensmerkmalen erklären, die aus einer Reproduktionsperspektive nicht sinnvoll sind. Kulturelle Evolution ist schneller und flexibler: Anpassung an neue oder für das Überleben von Menschen ungeeignete Umgebungen geschieht nicht mehr genetisch, sondern durch Verhaltensanpassung. Genetische Anpassung folgt der kulturellen langsam, bedeutet aber auch Einschränkungen für die Flexibilität der kulturellen Evolution^[@SmithThreestylesevolutionary2000, 31-33.].
*Dual Inheritance Theory* ist ein wesentlicher Teil der theoretischen Grundlage für die Expansionssimulation, die für die vorliegende Arbeit entwickelt wurde (siehe Kapitel \@ref(simulation-theorie)). Um sie besser zu verstehen, lohnt es sich, einen wichtigen Teil ihrer Entstehungsgeschichte nachzuzeichnen: Richard Dawkins *Memetik*.
## Memetik {#memetics}
Memetik (*Memetics*) ist eine Variante der oben beschriebenen *Dual Inheritance Theory* . Der Begriff *Meme* wurde 1976 vom britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins in *The selfish gene*^[@Dawkinsselfishgene1976. Ich werde im folgenden aus einer Neuauflage des Buches zitieren, die 2016 40 Jahre nach der Erstpublikation veröffentlicht und um Kommentare von Dawkins erweitert wurde: @Dawkinsselfishgene40th2016.] eingeführt. Obgleich populärwissenschaftlich hat es doch in verschiedenen Fachbereichen beachtliche Rezeption erfahren und darf als wichtiger Grundstein dieser intellektuellen Strömung gelten. Memetik ist eine außergewöhnlich (öffentlichkeits)wirksame Nischenwissenschaft, die von Kritikern als irrelevant, unpraktikabel, Ideologie oder Pseudowissenschaft abgelehnt wurde (siehe Kapitel \@ref(memetics-critique)). Das liegt nicht zuletzt an ihrem niederschwelligen Zugang zu *Cultural Evolution Theory*. Ihr größter Verdienst ist es, Grundgedanken zur Kulturevolutionsforschung zu Ende zu denken und radikal vereinfacht auszuformulieren. Das hat den Diskurs in mehrere Fächer getragen und zu einer neuen Reife geführt: Memetik hat sich im akademischen Diskurs selbst abgeschafft. In dieser Arbeit steht Memetik auch exemplarisch für andere Strömungen der *Cultural Evolution Theory*, die sich an der Formulierung eines einheitlichen und umfassenden Entwicklungsmodells versucht haben -- z.B. *Cultural Virus Theory*^[@cullen_contagious_2000].
### Meme in Dawkins *The selfish gene* {#memetics-dawkins}
Dawkins führt in *The selfish gene* einen wesentlichen Perspektivwechsel durch, indem er Evolution nicht aus der Sicht der sich entwickelnden Organismen sondern aus der sich durch die Organismen ausbreitenden Gene betrachtet. Gene würden -- freilich nicht bewusst -- Lebewesen als komplexe Vehikel für ihre eigene Reproduktion nutzen und so die Entwicklung derselben mittel- und langfristig auf Populationsniveau steuern: *the gene's eye view*. In Kapitel 11, *Memes: the new replicators*^[@Dawkinsselfishgene40th2016, 287-303], bezieht Dawkins explizit die Spezies Mensch in seine Analyse mit ein und prüft, ob die Menschheit im selben Umfang dieser Determination durch den statistischen Willen ihres Erbguts untertan ist. Dawkins verneint das: Sein Kulturverhalten würde den Menschen von allen anderen bekannten Lebewesen abheben.
Auch bei Tieren gibt es Verhaltensmuster, die unabhängig von genetischer Vererbung von Individuum zu Individuum weitergegeben werden: beispielsweise bestimmte Melodien des Gesangs von Singvögeln, die erwachsene Tiere voneinander lernen. Kein anderes bekanntes Lebewesen erreicht jedoch das Komplexitätsniveau des Menschen, der Sprache, Mode, Ritual, Kunst, Architektur und Technologie besitzt und sie unter ständigen Anpassungen tradiert. Die Entwicklung in diesen Bereichen über archäologische Zeiträume zeigt eine Tendenz hin zu zunehmend höherer Komplexität und Vielfalt. Geschwindigkeit und Diversität liegen weit jenseits dessen, was genetische Evolution zu leisten in der Lage wäre. Erklärungsversuche dafür von Evolutionary Psychology und Human Behavioural Ecology empfindet Dawkins als unzureichend. Stattdessen abstrahiert er die von ihm postulierte Evolutionstheorie und führt den Begriff des *Replikators* ein. Wenn irgendeine Form von Replikator vorhanden sei, dann würde zwangsläufig Evolution stattfinden. Gene seien Replikatoren -- Ideen, Gedanken, Meme aber ebenso. Glaubt man einer Fußnote in Dawkins später kommentiertem Text, so war die Aussage, dass das Gen nicht die einzige mögliche Form eines Replikators ist, bereits die wesentliche in Kapitel 11. Umso erstaunlicher, dass er den Moment der Schöpfung seines Neologismus Meme dennoch theatralisch zelebriert:
> I think that a new kind of replicator has recently emerged on this very planet. It ist staring us in the face. It is still in its infancy, still drifting clumsily about in its primeval soup, but already is it achieving evolutionary change at a rate that leaves the old gene panting far behind.
The new soup is the soup of human culture. We need a name for the new replicator, a noun that conveys the idea of a unit of cultural transmission, or a unit of *imitation*. 'Mimeme' comes from a suitable Greek root, but I want a monosyllable that sounds a bit like 'gene'. I hope my classicist friends will forgive me if I abbreviate mimeme to meme. [...] It should be pronounced to rhyme with 'cream'.
>
> -- @Dawkinsselfishgene40th2016, 291.
Meme seien kleine abgrenzbare Informationseinheiten wie Melodien, Geflügelte Worte, Kleidungsmoden oder das Wissen um spezifische technische Prozesse. So wie Gene Lebewesen als Vehikel gebrauchen, so wären menschliche Gehirne das Medium, in denen sich Gene ausbreiten. Die Informationsweitergabe ist nicht auf sexuelle oder asexuelle Fortpflanzung beschränkt, sondern funktioniert über eine Form der zwischenmenschlichen Kommunikation, die Dawkins unter dem Überbegriff Imitation zusammenfasst. Er geht davon aus, dass Meme als physische Strukturen verschalteter Nervenzellen existieren. Unabhängig davon sei ihr Effekt deutlich zu spüren: Entitäten, die unser Denken parasitisch bewohnen und ihre eigene Ausbreitung bezwecken. Dawkins bemüht für eine erste Illustration das Beispiel des monotheistischen Glaubens an einen Gott^[Religionskritik ist ein wiederkehrendes Thema in Dawkins umfangreichem, populärwissenschaftlichem Werk. Siehe z.B. @dawkins_god_2006]:
> Consider the idea of God. [..] How does it replicate itself? By the spoken and written word, aided by great music and great art. [...] What is it about the idea of a god that gives it its stability and penetrance in the cultural environment? The survival value of the god meme in the meme pool results from its great psychological appeal. It provides a superficially plausible answer to deep and troubling questions about existence. It suggests that injustices in this world may be rectified in the next. The 'everlasting arms' hold out a cushion against our own inadequacies which, like a doctors placebo, is none the less effective for being imaginary. These are some of the reasons why the idea of God is copied so readily by successive generations of individual brains.
>
> -- @Dawkinsselfishgene40th2016, 292.
Warum ist das menschliche Gehirn empfänglich für Meme? Gibt es einen klassisch evolutionären Vorteil von dieser Empfänglichkeit? Nach Dawkins ist die grundsätzliche Kulturfähigkeit des Menschen durchaus ein Effekt genetischer Mutation und Selektion. Ab einem gewissen Punkt -- in fließendem Übergang -- sei allerdings der Replikator Meme im Kulturraum entstanden und hätte die Zügel in die Hand genommen.
> Whenever conditions arise in which a new kind of replicator *can* make copies of itself, the new replicators *will* tend to take over, and start a new kind of evolution of their own. Once this new evolution begins, it will in no necessary sense be subservient to the old.
>
> -- @Dawkinsselfishgene40th2016, 293.
Die genetische Evolution habe also den Nährboden bzw. das Medium einer neuen, viel schnelleren Form der Evolution geschaffen, die andere Prioritäten für Gesundheit, Langlebigkeit und Fortpflanzungsfähigkeit ihrer Trägerorganismen anlegt. In vielen Fällen sind diese Prioritäten ähnlich. Ein Beispiel dafür sind Meme, die positiv konnotiert mit Sex umgehen. Andererseits gibt es auch Meme wie etwa das Zölibat katholischer Ordensträger, die aus einer Genperspektive schwerer zu erklären sind, da sie die Verbreitung der Gene ihrer Träger effektiv hemmen.
Wenn nun also auch im Medium Kultur die Mechanismen der Evolution wirken, dann müssten sich die Replikatoren Meme dem selben Druck beugen wie die Gene in der natürlichen Umwelt. Überleben könnten nur Replikatorenvarianten mit einer hohen Qualität der Eigenschaften *Longevity*, *Fecundity* und *Copying-Fidelity*^[@Dawkinsselfishgene40th2016, 47-49.].
*Longevity* -- Langlebigkeit -- sei eine günstige Eigenschaft für einen Replikatortyp, da er seinen Gesamtbestand im Medium so einerseits leicht hoch halten kann und ihm außerdem mehr Zeit für Reproduktion zur Verfügung steht. Einzelne Kopien von Genen sind in ihrer Lebenszeit an den Organismus gebunden, dessen Aufbau sie kodieren. Instanzen eines Memes seien dagegen von der menschlichen Gedächtnisleistung abhängig. Meme könnten aber auch außerhalb von Menschen überdauern, wenn sie etwa in geschriebener oder digitaler Form abgelegt wurden. Damit könnte das Meme etwa später wieder einen Menschen infizieren, obgleich kein direkter Kontakt mit einem Infizierten stattgefunden hat.
*Fecundity* -- Fruchtbarkeit -- sei für die Durchsetzungsfähigkeit eines Replikatortyps noch wichtiger als longevity: Um so mehr Kopien er in kürzerer Zeit von sich selbst anfertigen kann, desto schneller wird er das Medium dominieren. Die Reproduzierfähigkeit eines Memes sollte von verschiedenen Eigenschaften abhängen, allem voran schlicht seiner Beliebtheit in oder außerhalb einer assoziierten Adressatengruppe.
*Copying-Fidelity* -- Kopiertreue -- scheint hier zunächst deplatziert. Ein gewisser Grad an Mutationsfähigkeit ist unerlässlich für Anpassung. Tritt allerdings bei einem Replikatortyp eine zu große Instabilität auf, so argumentiert Dawkins, könnte er seine Identität nicht aufrechterhalten und würde entweder schnell von Varianten abgelöst, die aus ihm selbst hervorgegangen sind, oder sich völlig auflösen. Bei Memen scheint gerade das häufig zu passieren: Übertragungsfehler oder bewusste Modifikation scheinen die Regel, nicht die Ausnahme zu sein. Damit muss die Qualität von Memen als Replikatoren in Frage gestellt werden. Dawkins gibt das zu -- diese Frage nach der Kopiertreue führt ihn zurück zur Definition von Memen. Welche Information enthält ein individuelles Meme bzw. -- in einem Analogieschluss -- das Gen?
Das Gen hat hinsichtlich seines mikrobiologischen Aufbaus eine langwierige Definitionsgeschichte hinter sich^[@gerstein_what_2007; siehe auch Kapitel \@ref(biology)]. Dawkins definiert es als einen dedizierten DNA-Abschnitt mit hinreichender Wirkung und Kopiertreue, um als selektionsrelevante Einheit zu wirken. Gene schließen sich auf verschiedenen hierarchischen Ebenen zu Komplexen zusammen, die als Gruppe gegebenenfalls eine Gesamtwirkung entfalten und wiederum als ganzes selektionsrelevant wirken kann^[@Dawkinsselfishgene40th2016, 36-37.]. Ein ähnliches Strukturverhalten könnte auch für Meme angenommen werden. Eine Symphonie setzt sich beispielsweise aus einer Vielzahl einzelner, für sich wiedererkennbarer Melodieabschnitte und Figuren zusammen. Eine Religion ist die Gesamtheit vieler verknüpfter Ideen und Ritualen, die als ganzes tradiert werden, eine Konfession möglicherweise ein *stable set of mutually-assisting memes*^[@Dawkinsselfishgene40th2016, 299. Komplexe zusammenhängender Meme wurden später von Dawkins Schülern mit dem Begriff *Memeplex* belegt (siehe Kapitel \@ref(memetics-history))].
> I conjecture that co-adapted meme-complexes evolve in the same kind of way as co-adapted gene-complexes. Selection favours memes that exploit their cultural environment to their own advantage. This cultural environment consists of other memes which are also being selected. The meme pool therefore comes to have the attributes of an evolutionarily stable set, which new memes find it hard to invade.
>
> -- @Dawkinsselfishgene40th2016, 301.
Wie oben ausgeführt, versetzt sich Dawkins in die Perspektive der Gene hinein und personifiziert sie. Eine empirisch nahe liegende und terminologisch praktische Metapher um ihre effektive Entwicklung zu beschreiben. Diese Übertragung möchte er auch für Meme vornehmen. Meme stünden in starker Konkurrenz zueinander um die Zeit, die Menschen ihnen widmen und sie gegebenenfalls replizieren: Meme möchten so viele menschliche Gehirne wie möglich so lange wie möglich dominieren.
> Time is possibly a more important limiting factor than storage space, and it is the subject of heavy competition. The human brain, and the body that it controls, cannot do more than one or a few things at once. If a meme is to dominate the attention of a human brain, it must do so at the expense of 'rival' memes.
>
> -- @Dawkinsselfishgene40th2016, 298.
Aus dieser Perspektive könnte, so Dawkins, etwa das oben angesprochene Zölibat-Meme verstanden werden, dass im Memeplex katholischer Glaubenspraxis Priester freisetzt, keine Zeit an eine Familie zu verlieren, sondern sich voll auf die Pflege und Verbreitung anderer Meme der Kirchendoktrin zu konzentrieren. Die Prioritäten von Menschen, Genen und Memen müssen sich unterscheiden.
> What we have not previously considered, is that a cultural trait may have evolved in the way that it has, simply because it is *advantageous to itself*.
>
> -- @Dawkinsselfishgene40th2016, 302.
Das wirft die philosophische Frage auf, inwiefern Menschen Sklaven ihrer Gene und Meme sind. Dawkins gibt dazu zu bedenken, dass weder Gene noch Meme im Gegensatz zum Menschen über Bewusstsein oder Planungsfähigkeit verfügen. Gene und Meme seien *unconscious, blind, replicators*^[@Dawkinsselfishgene40th2016, 302.]. Damit könnte sich der Mensch seine Situation bewusst machen, sich zumindest teilweise den auf ihn wirkenden Entitäten entziehen und neue Meme schaffen, die seinen Zielen besser dienen: zum Beispiel solche, die langfristige Kooperation stabilisieren und den immanenten Egoismus von Genen und Memen ächten.
### Kurze Geschichte der Memetik {#memetics-history}
Dawkins war nicht der erste Autor, der den Meme-Begriff für Einheiten der Kulturübertragung genutzt hat, obgleich die subjektive Orginalität seiner Wortschöpfung der Wahrheit entsprechen mag^[@laurent_note_1999]. Dawkins Quellen und Inspiration zu hinterfragen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, es seien aber immerhin Ted Cloak^[@cloak_cultural_1966; @cloak_is_1975] sowie Cavalli-Sforza und Feldman^[@cavalli-sforza_models_1973] erwähnt, die Teile des Replikatormodells vorweg genommen hatten und von Dawkins darin auch zitiert werden. Ausgehend von *The selfish gene* hat sich Memetik -- in Dawkins Terminologie -- als außerordentlich potentes Meme erwiesen. Eine intensive Auseinandersetzung damit fand allerdings erst mit einigem zeitlichem Abstand in den 1990ern statt. Die *Cultural Evolution* Debatte, in deren größeren Kontext Memetik eingeordnet werden muss, erfuhr indes auch in den 1980ern wesentliche Beiträge: 1981 wurden mit Charles Lumsdens (\*1949) und Edward Wilsons (\*1929) *Genes, Mind and Culture* [@lumsden_genes_1981 -- Lumsden und Wilson führen mit *Culturgen* eine dem Meme ähnliche Beobachtungseinheit ein.] sowie Cavalli-Sforzas und Feldmans *Cultural Transmission and Evolution*^[@cavalli-sforza_cultural_1981] zwei wichtige und gleichermaßen kontroverse Monographien veröffentlicht, die Modelle zur Inkorporation evolutionärer Ansätze für die anthropologische Forschung ausformulierten. Die Geistes- und Geschichtswissenschaften standen soziobiologischen Ansätzen in den 1970ern und 1980ern grundsätzlich kritisch gegenüber^[u.a. @sahlins_use_1976] -- entsprechend zurückhaltend war der Umgang mit diesen Publikationen. Peter James Richerson (\*1943) und Robert Boyd (\*1948) nahmen mit *Culture and the Evolutionary Process*^[@boyd_culture_1985] wesentlichen Einfluss auf diese Diskussion indem sie mit einem expliziten Schwerpunkt auf *Dual Inheritance Theory* Teile der festgefahrenen Soziobiologie-Konflikts vermieden. Gleichzeitig übernahmen sie damit ein der Memetik ähnliches Gerüst, ohne jedoch den Meme-Begriff zu referenzieren. Die 1990er schließlich waren das Jahrzehnt der Memetik. Maßgeblichen Anteil daran hatten neben Dawkins^[@dawkins_viruses_1993] unter anderem die Psychologin Susan Blackmore (\*1951) mit *The Meme Machine* ^[@blackmore_meme_1999 -- Ich werde im folgenden aus einer mir vorliegenden, deutschen Ausgabe zitieren: @blackmore_macht_2000], der Philosoph Daniel Dennett (\*1942) mit *Consciousness Explained*^[@dennett_consciousness_1991] und *Darwin’s Dangerous Idea*^[@dennett_darwins_1995; siehe auch @dennett_brainstorms_1978 und @dennett_elbow_1984] sowie eine große Zahl von Natur- und Geisteswissenschaftlern, die sich unter anderem im 1997 eigens gegründeten Journal of Memetics^[http://cfpm.org/jom-emit/ [06.01.2018]] zu Wort gemeldet haben. Darunter genannt werden sollen Aaron Lynch^[u.a. @lynch_thought_1996] (\*1957 -- \†2005), Francis Heylighen^[u.a. @heylighen_evolution_1996 und @heylighen_selfish_1992] (\*1960), und Derek Gatherer^[u.a. @gatherer_identifying_2002 und @gatherer_spread_2002] (\*1964). In den frühen 2000ern wurden die kritischen Stimmen innerhalb und außerhalb der Community of Practice immer lauter^[z.B. in @aunger_darwinizing_2000] und leiteten den Abgesang der Memetik ein: Memetik wurde zunehmend weniger referenziert und dem einem Stigma der Pseudowissenschaftlichkeit assoziiert. Das Journal of Memetics wurde 2005 in Ermangelung von Beiträgen eingestellt^[@vada_what_2015]. Die sichtbarste Referenz zur Memetik in der archäologischen Literaturlandschaft ist Stephen Shennans (\*1949) *Genes, memes, and human history*^[@shennan_genes_2002] geblieben, das sich aber weniger der Memetik als vielmehr der Evolutionary Archaeology im Allgemeinen widmet.
Die Qualität Susan Blackmores *The meme machine* liegt in der Synthese vieler Diskurse und Spannungslinien, die sich rund um die Memetik bis in die 1990er Jahre herauskristallisiert hatten. Im ersten Teil ihres Buches formuliert sie Dawkins Grundgedanken sehr bildhaft aus: Meme sind das Ergebnis von Imitation, *Universeller Darwinismus* greift wo immer Replikatoren auftreten, Kulturentwicklung zieht biologische Evolution an einer *langen Leine* hinter sich her, Meme haben Ähnlichkeit zu Krankheiten und Computerviren, Meme haben -- zumindest statistisch -- Willen und Agency (*the memes’ eye view*). Bevor sie diese Konzepte im letzten Teil des Buches für gesellschaftlichen Kommentar instrumentalisiert (*Meme des New Age*, *Ins Internet*, *Religionen als Memplexe*), wendet sie sich im mittleren Teil wesentlich Fragen der Menschheitsentwicklung aus memetischer Perspektive zu. Dabei lässt sich ihr Erklärunsmodell auf eine einfache Formel reduzieren: Sobald Meme existieren übernehmen sie die Rolle des dominanten Replikators, der das Verhalten seiner Träger wesentlich und langfristig beeinflusst. Dieses Interpretationsmuster bringt sie so beispielsweise für die Entstehung von Sprache, als Mechanismus sexueller Selektion oder als Begründung für zwischenmenschlichem Altruismus zur Anwendung:
> Als sich die Imitationsfähigkeit erst einmal entwickelt hatte und Meme auftauchten, haben diese Meme die Umwelt verändert, in der die Gene selektiert wurden und zwangen sie so, immmer bessere memverbreitende Apparate zu schaffen. Mit anderen Worten ist die menschliche Sprachfähigkeit memgetrieben, und die Funktion der Sprache besteht darin, Meme zu verbreiten.
>
> -- @blackmore_macht_2000, 159.
> Der Memetik [...] zufolge wird die Partnerwahl nicht nur vom genetischen, sondern auch vom memetischen Vorteil beeinflusst. Eine meiner Schlüsselannahmen ist, dass die natürliche Selektion nach Entstehung der ersten Meme begann, Menschen zu favorisieren, die sich für eine Paarung mit den besten Imitatoren oder den besten Benutzern und Verbreitern von Memen entschieden.
>
> -- @blackmore_macht_2000, 213.
> Wenn Leute altruistisch sind, werden sie beliebt, weil sie beliebt sind, werden sie kopiert, und weil sie kopiert werden, breiten sich ihre Meme -- *einschließlich der Altruismusmeme selbst* -- weiter aus als die Meme weniger altruistischer Leute. Das liefert einen Mechanismus für die Ausbreitung altruistischen Verhaltens.
>
> -- @blackmore_macht_2000, 252.
Daniel Dennett verarbeitet Dawkins Memetik ausführlich in seinen philosophischen Beiträgen zu Religion, Moral und der Natur des menschlichen Denkens. Sein Engagement in der Diskussion um evolutionäre Perspektiven auf die Kulturentwicklung ist ein Beleg dafür, dass Memetik -- wie schon weiter oben angedeutet -- weniger als wissenschaftliche Theorie denn als philosophische Strömung verstanden werden kann. In *Darwin's Dangerous Idea*^[@dennett_darwins_1995] betrachtet er den Kontrast zwischen der von Darwin initiierten Evolutionstheorie und Entstehungsmodellen, die übernatürliche Mechanismen -- *Skyhooks* -- inkorporieren. Evolutionstheorie müsste trotz ihrer immanenten Überlegenheit als modernes, wissenschaftliches Erklärungsmodell auch eine fundierte Begründung für die scheinbare und effektive Zweckhaftigkeit und Formähnlichkeit zufälliger, biologischer Entwicklung und menschlichen Kulturhandelns formulieren. Dafür führt Dennett das Konzept des *Design Space* ein, der der natürlichen Evolution Grenzen aufzwingt und sie lenkt. Evolution versteht Dennett als streng *algorithmischen* Prozess von Anpassung durch Selektion. Memetik dient ihm als philosophisches Werkzeug, um diesen Mechanismus aus dem Natur- in den Kulturkontext zu übertragen. Das erlaubt es, sogar über den Menschen hinaus -- hinsichtlich künstlicher Intelligenz -- ein und dasselbe Erklärungsmodell für unterschiedliche Domänen zur Anwendung zu bringen.
> Then a few billion years passed, while multicellular life forms explored various nooks and crannies of Design Space until, one fine day, another invasion began, in a single species of multicellular organism, a sort of primate, which had developed a variety of structures and capacities [...] that just happend to be particularly well suited for these invaders. It is not surprising that the invaders where well adapted for finding homes in their new hosts, since they were themselves created by their hosts [...]. In a twinkling -- less than a hundred thousand years -- these new invaders transformed the apes who were their unwitting hosts into something altogether new: *witting* hosts, who, thanks to their huge stock of newfangled invaders, could imagine the heretofore unimaginable, leaping through Design Space as nothing had ever done before. Following Dawkins (1976), I call the invaders *memes* [...].
>
> -- @dennett_darwins_1995, 341.
> There is no denying that there is cultural evolution, in the Darwin-neutral sense that cultures change over time, accumulating and losing features, while also maintaining features from earlier ages. The history of the idea of say, crucifixion, or of a dome on squinches, or powered flight, is undeniably a history of transmission through various nongenetic media of a family of variations on a central theme. But whether such evolution is weakly or strongly analogous to, or parallel to, genetic evolution, the process that Darwinian Theory explains so well, is an open question. [...] At one extreme, we may imagine, it could turn out that cultural evolution recapitulates *all* the features of genetic evolution: not only are there gene analogues (memes), but there are strict analogues of phenotypes, genotypes, sexual reproduction, [...]. At the other extreme, cultural evolution could be discovered to operate according to entirely different principles [...], so that there was no help at all to be found amid the concepts of biology. [...] In between the extremes lie the likely and valuable prospects: that there is a large (or largish) and important (or merely mildly interesting) transfer of concepts from biology to the human sciences.
>
> -- @dennett_darwins_1995, 345-346.
Das Journal of Memetics -- Evolutionary Models of Information Transmission (JoM-EMIT) wurde als Online Zeitschrift mit Peer-Review Prozess eingerichtet. Während seiner kurzen Existenz wurden in ihm nur 45 Artikel^[http://cfpm.org/jom-emit/all.html [23.08.2018]] zu kulturevolutionärer Grundlagenforschung, Wissenschaftstheorie, Philosophie sowie Modellierung und Empirie rund um und mit der Terminologie der Memetik veröffentlicht. Die Mehrzahl der -- häufig sehr kurzen -- Beiträge beschäftigt sich mit Begriffsdefinition, der experimentellen Anwendung der Memetik auf Fragestellungen in diversen Fachbereichen sowie Vorschläge zur computerbasierten Simulation von Memeexpansionsprozessen. Die Autoren versuchten Memetik als anwendungsorientierte Wissenschaft zu definieren:
> [...] the application of models with an evolutionary or genetic *structure* to the *domain* of (cultural) information transmission.
>
> -- @edmonds_modelling_1998
Obgleich das Ziel der Zeitschrift insofern erreicht wurde, als dass sie als wichtige Kommunikationsplattform für die Diskussion rund um Memetik wahrgenommen wurde, ist sie gleichermaßen die Dokumentation ihres Scheiterns als eigenständige Wissenschaft: Mehrere Autoren stellen die Aussichten der Memetik zuletzt explizit in Frage.
### Kritik {#memetics-critique}
Die Kritik an der Memetik ist vielfältig und setzt sowohl an ihren Grundsätzen als auch Details an. Auf eine umfassende Darstellung muss hier verzichtet werden^[Viele Aspekte werden etwa von Tim Tyler aufgelistet (und vermeintlich entkräftet), dessen Webpräsenz http://memetics.timtyler.org/criticisms/ [23.08.2018] und Monographie *Memetics: memes and the science of cultural evolution* (@tyler_memetics_2011) ein Beleg dafür sind, welchen Anklang Memetik an den Grenzen der Wissenschaftlichkeit und in pseudo- und alternativwissenschaftlichen Sphären gefunden hat]. Nur drei Angriffspunkte sollen herausgegriffen werden, die von verschiedenen Kritikern wiederholt wurden und zusammen entscheidend sind, den Niedergang der Memetik zu erklären.
1. *Die Übertragung biologischer Terminologie und Erkentnisse auf Kulturprozesse ist grundsätzlich unzulässig oder zumindest in der Memetik zu stark vereinfacht.* Diese Fundamentalkritik geht weit über die Memetik hinaus -- trifft also die Grundidee der *Cultural Evolution Theory* -- hat sich aber besonders an der niederschwelligen und gleichzeitig in Absoluten argumentierenden Memetik entladen. Sie ähnelt der frühen Kritik am Evolutionismus durch die *Boasianer* (siehe Kapitel \@ref(cultural-relativism-neoevolutionism)). Einer der sichtbarsten Vertreter dieser ausgesprochen antisoziobiologischen Perspektive war Stephen Jay Gould (\*1941 -- \†2002). Memetik entwickelte sich also als kontroverse Nische in einem ohnehin heiß umkämpften Umfeld.
> I am convinced that comparisons between biological evolution and human cultural or technological change have done vastly more harm than good -- and examples abound of this most common of intellectual traps [...]. Biological Evolution is powered by natural selection, cultural evolution by a different set of principles that I understand but dimly.
>
> -- @gould_pandas_1991, 63.
2. *Memetik bietet keine ausreichenden Ansatzpunkte für systematische Falsifizierung oder quantitative Modellierung.* Besonders aus dem Kreis jener Autoren, die tatsächlich den Versuch unternommen haben Memetik für ihre Forschung zu applizieren, gingen mehrere hervor, die die Anwendbarkeit von memetischer Problemformulierung und Modellierung schließlich stark in Frage stellen mussten. Darunter Bruce Edmonds, Francisco Gil-White^[@gil-white_common_2005-1] und Robert Aunger^[@aunger_darwinizing_2000]. Memetik gelang es nicht, prüf- und reproduzierbare, wissenschaftliche Ergebnisse zu erzielen. Dieses Scheitern ist selbsterklärt:
> The central core, the meme-gene analogy, has not been a wellspring of models and studies which have provided "explanatory leverage" upon observed phenomena. Rather, it has been a short-lived fad whose effect has been to obscure more than it has been to enlighten. I am afraid that memetics, as an identifiable discipline, will not be widely missed.
>
> -- @edmonds_revealed_2005
3. *Die Terminologie der Memetik bringt keinen substantiellen Zugewinn im Kontext der Cultural Evolution Forschung.* Diese Erkenntnis brachte der Wissenschaft Memetik den Todesstoß. *Cultural Evolution Theory* entwickelte sich permanent weiter, die Bezugnahme auf den Meme Begriff war allerdings minimal -- er scheint schlicht nicht erforderlich zu sein und keinen nennenswerten Vorteil für die Beschreibung und Erforschung von Kulturprozessen zu bieten.
> Indeed, memetics -- at least for now -- doesn’t seem to add anything to the standard view of gene-culture co-evolution that was developed well before Dawkins put down his ideas in The Selfish Gene. Ideas clearly do evolve, and there is in fact a somewhat undeniable analogy between memes and the evolution of genes. But we don’t need to push that analogy too far, and we certainly don’t need a whole new vocabulary to make sense of it.
>
> -- @pigliucci_trouble_2007
Die trotzdem enorme Resonanz der Memetik in der Öffentlichkeit ist jedoch geeignet, die Wissenschaftskommunikation der anthropologischen Wissenschaften zu hinterfragen^[@bloch_where_2005].
## Themen und Konflikte der Cultural Evolution Forschung
Cultural Evolution ist heute eine wichtige theoretische Strömung der anthropologischen Forschung. Die oben unterschiedenen Perspektiven Evolutionary Psychology, Human Behavioural Ecology und *Dual Inheritance Theory* sind Grundlage für abstrakte Modelle, Fallstudien und theoretische Weiterentwicklung. Besonders hervorgetan haben sich hier in den vergangenen 30 Jahren neben Cavalli-Sforza, Feldmann, Richerson, Boyd und Shennan auch Robert Chester Dunnell (\*1942 -- \†2010), Michael John O’Brien (\*1950), Patrice A. Teltser (\*1954), Ben Sandford Cullen (\*1964 -- \†1995) und eine Vielzahl jüngerer Kollegen wie Ken Aoki, Alexander Bentley, Jeffrey Brantingham, Mark Collard, Nicole Creanza, Enrico Crema, Jelmer Eerkens, Laurel Fogarty, Joseph Henrich, Peter Jordan, Anne Kandler, Oren Kolodny, Kevin Laland, Carl Lipo, Stephen Lycett, Richard Lee Lyman, Alex Mesoudi, Craig Palmer, Luke Rendell oder Bruce Winterhalder. Seit 2015 konstituiert sich eine *Cultural Evolution Society* als interdisziplinäre Wissenschaftsvereinigung^[https://culturalevolutionsociety.org [01.02.2018]].
@creanza_cultural_2017 geben einen guten Überblick über aktuelle Fragestellungen der *Cultural Evolution* Forschung. Ausgehend von dieser Themensammlung sollen einige wesentliche Zusammenhänge nachvollzogen werden um die breite Aufstellung des Felds zu veranschaulichen. Weitere wichtige Themenkomplexe, wie Kultur und Kulturentwicklung in nicht-menschlichen Spezies^[Kulturverhalten und *Social Learning* wurde in vielen Spezies beobachtet, darunter Vögel, Delphine, Wale, Primaten, Elefanten und Fische -- @eerkens_cultural_2007; @laland_question_2009], Evolution von Sprache in der Linguistik^[@nowak_evolution_1999] oder die Entstehung von altruistischem Verhalten im Menschen^[@boyd_origin_2005 -- Abschnitt drei ist mit sieben Beiträgen zwischenmenschlicher Kooperation und *Reziprozität* gewidmet], sollen hier aufgrund ihrer geringen Relevanz im Kontext dieser Arbeit beiseite gelassen werden. Ebenso die Vielzahl von Ansätzen, moderne gesellschaftlichen Problemstellungen wie Klimawandel^[@seneviratne_allowable_2016], Industrielle Landwirtschaft^[@garibaldi_farming_2017] und Multiresistente Keime^[@boni_evolution_2005] aus einer *Cultural Evolution* Perspektive zu analysieren. Stattdessen wird dem Themenfeld *Cultural Transmission* und seiner Bedeutung für archäologische Modellbildung in einem anschließenden, eigenen Kapitel \@ref(cultural-transmission) viel Raum gegeben.
### Menschliches Verhalten: Genetische Determination vs. Kulturelles Lernen
Eine der Grundannahmen der *Cultural Evolution Theory* ist die Ähnlichkeit zwischen biologischer Evolution und kultureller Entwicklung. Das schließt die Übertragung biologischer Konzepte wie Mutation, Selektion, *Flow* und *Drift* explizit ein^[@smith_cultural_1992]. Das Methodenset der Populationsgenetik kann damit auf Kulturprozesse übertragen werden. Cavalli-Sforza und Feldmann^[@cavalli-sforza_cultural_1981], Robert Boyd und Peter Richerson^[@richerson_dual_1978; @boyd_culture_1985] und andere^[@campbell_variation_1965; @pulliam_programmed_1980; @lumsden_genes_1981] legten dafür in den 1980ern konkrete Ausarbeitungen oft mathematisch formulierter Modelle vor. Dennoch bestehen klare Unterschiede zwischen biologischer Populationsgenetik und der Entwicklung und Transmission von Ideen. *Cultural Evolution* folgt nicht den Mendelschen Regeln zu *Uniformität*, *Spaltung* und *Unabhängigkeit*^[@mesoudi_pursuing_2017] und große Teile der Terminologie (z.B. *Genotyp vs. Phänotyp*, *Homozygotie vs. Heterozygotie*) sind nicht oder nur unter großen Bedeutungsverschiebungen anwendbar. *Horizontale* Transmission von einem lebenden Organismus zum anderen spielt in der biologischen Vererbung -- zumindest bei multizellularen Organismen^[Im Gegensatz zu den Möglichkeiten sehr einfacher Lebenwesen: @woese_new_2004; @woese_interpreting_2000] -- eine untergeordnete Rolle und die Übertragung erfordert große Anpassungen an den vor allem *vertikalen*, genetischen Ausgangsmodellen^[@cavalli-sforza_cultural_1973; @feldman_cultural_1976].
Im Gegensatz zur DNS der Genetik, ist die Identität der Informationsträger kultureller Entwicklung unbekannt. Im Kontext der Memetik wurde die Frage nach der physischen Existenz von Memen intensiv diskutiert^[@delius_nature_1991; @wilkinson_memes_1999; @blackmore_macht_2000 105-108.] -- und diese damit der *Cultural Evolution* Community neu präsent. Zwar sind die neurologischen Strukturen zur Speicherung einzelner Assoziationen unbekannt, gemessen werden kann *Cultural Transmission* dennoch. @pocklington_cultural_1997 formulieren auf Grundlage von Dawkins:
> The appropriate units of selection will be *the largest units of socially transmitted information that reliably and repeatedly withstand transmission*.
>
> -- @pocklington_cultural_1997, 81.
Zwar können Ideen wie Gene Gruppen bilden, ihre Übertragung ist allerdings viel volatiler -- nicht an die vertikale Transmission bei der biologischen Reproduktion gebunden. Die Modifikation von Ideen ist nicht nur auf zufällige Mutation beschränkt, sondern kann durchaus durch bewusste Innovation, Kombination oder Manipulation ausgelöst werden^[@eerkens_cultural_2007]. Hinsichtlich ihrer Wirkung besteht eine unbestreitbare Parallele zwischen Genen und Kulturverhalten: Sie erzeugen Phänotypen mit distinkter aber vergleichbarer Merkmalsausprägung^[@lyman_culture_2001; @lyman_rise_1997]. Bestimmte kulturelle Eigenschaften lassen sich binär oder diskret kategorisieren, andere eher quantitativ bzw. proportional beschreiben. Zu ersteren gehören beispielsweise das technologische Wissen um Herstellung und Verwendung eines bestimmten Werkzeugs oder die Verwendung eines bestimmten Ritzmusters zur Keramikverzierung. Damit sind also die herkömmlichen Einheiten der archäologischen Typen- und Formengliederung direkt in das *Cultural Transmission* Framework einpassbar^[@lipo_science_2001; @lyman_cultural_2003]. Auch die in der vorliegenden Arbeit vorgenommene Untersuchung von Bestattungssitten reduziert diese auf die binäre Komponente der Ab- und Anwesenheit eines bestimmten Aspekts des Rituals. Analysen auf metrischem Skalenniveau wurden etwa zur Abbildung von Risikobereitschaft^[@bisin_economics_2001-1] in Gruppen oder dem Kompetenzniveau^[@baldini_revisiting_2015; @henrich_demography_2004; @kobayashi_innovativeness_2012] im Umgang mit einem bestimmten Werkzeug zur Anwendung gebracht.
Der von @smith_three_2000 (siehe Kapitel \@ref(evolutionism-modern-theories)) beobachtete Riss durch die Forschungslandschaft zwischen Evolutionary Psychology, Human behavioral Ecology und *Dual Inheritance Theory* wird besonders an der Frage deutlich, welche Aspekte menschlichen Verhaltens genetisch determiniert und welche kulturell konstruiert sind. Unter der Annahme, dass die Transmission von Ideen Menschen eine viel höhere Anpassungsfähigkeit an widrige Subsistenzumstände ermöglicht, zeigen entsprechend konzipierte Modelle, dass genetisch transportiertes Verhalten nur in ökologisch sehr stabilen Umgebungen Relevanz entwickeln kann^[@aoki_emergence_2005; @aoki_evolution_2014; @boyd_cultural_1983]. Aus dieser Perspektive ergibt sich das klare Primat kultureller Transmission für den Menschen, der sich dank seiner Kulturfähigkeit in fast alle auf der Erde vertretenen Biome hat ausbreiten können.
Auch bei einer Dominanz sozialen Lernens und kultureller Transmission für die Prägung menschlichen Verhaltens ist der genetische Anteil nicht zu vernachlässigen -- schon allein aufgrund der häufig zu beobachtenden Korrelation zwischen einem Verhaltensmuster und biologischer Verwandtschaft. Diese Übereinstimmung ergibt sich aus vertikalen Transmissionsstrukturen, die biologisch und kulturell oft parallel verlaufen. Genauso muss die natürliche Umwelt als wesentlicher Faktor bei der Determination menschlichen Verhaltens in Betracht gezogen werden. Die genaue Charakterisierung des Einflusses von Genen, Kultur und Umwelt ist unter den Stichworten *Gene-Culture coevolution*, *Dual Inheritance Theory* und *Cultural Niche Construction* intensiv diskutiert worden^[@aoki_gene-culture_2017; @boyd_culture_1985; @cavalli-sforza_cultural_1981; @chudek_culturegene_2011; @feldman_aspects_1979; @mesoudi_towards_2006; @richerson_dual_1978].
Die Methode der *Genomweiten Assoziationsstudie* (*GWAS*, *Genome-wide association study*) erlaubt es heute, Menschen und ihr Verhalten mit zunehmender Präzision auf Korrelation mit der Anwesenheit bestimmter Genen zu untersuchen. Dadurch wird die Suche nach genetischer Anpassung etwa an die naturräumliche Rahmensituation erleichtert^[@berg_population_2014]. Die Untersuchung von Merkmalen wie dem IQ oder dem erreichten Ausbildungsniveau^[@benyamin_childhood_2014; @davies_genome-wide_2011; @minkov_genetic_2015; @okbay_genome-wide_2016] ist jedoch mit ethischen und wissenschaftlichen Risiken verbunden. Einerseits eröffnen die Erkenntnisse über solche Zusammenhänge moralische Implikationen, andererseits ist eine statistische Ergebnissicherheit nicht gewährleistet: Korrelation von Genen und Verhalten muss nicht Konsequenz einer kausalen Beziehung sein. Stattdessen könnte sie nur Nebeneffekt von z.B. räumlicher und sozialer *Autokorrelation* oder *assortativer Paarung* sein^[@abdellaoui_educational_2015; @domingue_genetic_2014; @okbay_genome-wide_2016; @piffer_review_2015]. Moderne Fallbeispiele, für die komplexe, sozioökonomische Erklärungen angenommen werden müssen obgleich auch genetische Korrelation besteht, beschäftigen sich unter anderem mit Tabakkonsum, Armut, Gesundheit oder Rassismus^[@maes_genetic_2006; @marden_african_2016; @nugent_geneenvironment_2011; @paradies_racism_2015].
### Mensch-Umwelt Interaktion: Cultural Niche Construction und Pathogene {#cultural-niche-construction}
Cultural Niche Construction hält ein potentes Erklärungsmodell bereit, um den wechselseitigen Selektionsdruck nachzuvollziehen, den Kultur, Gene und Umwelt aufeinander ausüben^[@laland_niche_2000; @odling-smee_niche_2003; @laland_cultural_2011; @rendell_runaway_2011]. Dabei beschreibt *Niche Construction* in der Biologie Veränderungen der natürlichen Umwelt, die einerseits von einer Spezies selbst hervorgerufen werden und gleichermaßen die Selektionsdrücke auf diese Spezies beeinflussen^[@laland_niche_2006]. Für den Menschen ergibt sich daraus ein komplexes Geflecht von Interdependenzen zwischen Kulturverhalten, genetischer Disposition und Natur, die die schrittweise Modifikation all dieser Systembestandteile zur Folge hat^[@alberti_global_2017; @arbilly_arms_2014; @creanza_models_2012; @laland_cultural_2001]. Ähnlichkeiten der natürlichen Umwelt ansonsten völlig unabhängiger Populationen können Auslöser für *Konvergenz* sein, also Übereinstimmungen im Kulturverhalten, die nicht durch *Cultural Transmission* erklärt werden können^[@eerkens_cultural_2007].
Subsistenzbezogenes Verhalten ist unmittelbar selektionsrelevant, da es die Sterbe- und Reproduktionswahrscheinlichkeit einer Population beeinflusst. Der Mensch hat seine Versorgung über den größten Teil seiner Existenz aus Jagen und Sammeln bestritten. Dabei war er von den Ressourcen einer natürlichen Umwelt abhängig und hat sie durch Güterentnahme destabilisiert. Etliche Modelle im Kontext der Human behavioral Ecology dokumentieren, wie diese Wechselwirkung zum Katalysator von Veränderung im Mensch-Umwelt System wurde^[@hardy_climatic_2010; @hockett_nutritional_2005; @stiner_thirty_2001]. Viel beachtete Fallbeispiele dieser Interaktion sind unter anderem anthropogen induzierte Aussterbeereignisse von Megafauna^[@barnosky_assessing_2004], Feuernutzung für Landschaftseingriffe^[@bird_fire_2008], die Ausbreitung der Links- und Rechtshändigkeit^[@laland_gene-culture_1995], die Entstehung der Laktose-Toleranz^[@feldman_theory_1989; @ingram_population_2012] und die rückläufige, demographische Entwicklung in modernen, westlichen Gesellschaften^[@borgerhoff_mulder_demographic_1998; @fogarty_role_2013; @ihara_cultural_2004]. Auch die Neolithisierung könnte durch einen solchen Prozess verstanden werden^[@rowley-conwy_foraging_2011; @smith_onset_2013].
Krankheiten sind ein wesentlicher Selektionsfaktor für den Menschen und hatten großen Einfluss sowohl auf seine biologische^[@bustamante_natural_2005; @enard_viruses_2016; @mead_balancing_2003; @sabeti_genome-wide_2007] als auch auf seine prähistorisch-kulturelle^[@martin_health_2002; @oxenham_skeletal_2005] und historische^[@alfani_plague_2013; @murray_estimation_2006] Entwicklung. Malaria hat beispielsweise wesentliche Veränderungen im menschlichen Erbgut durchgesetzt^[@kwiatkowski_how_2005; @tishkoff_haplotype_2001] -- unter anderem die weitreichende Verbreitung der Sichelzellenanämie^[@allison_protection_1954]. Die Interaktion des Menschen mit Krankheiten lässt sich nicht auf eine rein biologische Perspektive reduzieren. Stattdessen sind Krankheiten und ihre Verbreitung stark durch Kulturverhalten bedingt. Nassfeldanbau in Westafrika könnte die initiale Verbreitung von Malaria massiv begünstigt haben^[@durham_coevolution_1991-1], Krankheiten waren ein wesentlicher Bestandteil des Kulturpakets, mit dem sich die nordamerikanischen Ureinwohner in Folge von Kolumbus Landung 1492 konfrontiert sahen^[@nunn_columbian_2010] und die Kuru Krankheit, die bis in die 1940er im Hochland von Neuguinea immer wieder in Epidemien ausbrach, war in ihrer Übertragung abhängig von kannibalistischen Ritualen^[@lindenbaum_kuru_2015].
Neben Pathogenen ist der Mensch auch Wirt für weniger parasitäre Mikroorganismen. Die Gesamtheit von Lebensformen, die in und auf dem menschlichen Körper leben ohne Krankheiten oder Entzündungen hervorzurufen -- die Normalflora -- hat durchaus Rückwirkung nicht nur auf den menschlichen Organismus, sondern auch auf dessen Verhalten und Verhaltensspielraum. Menschen können die Fähigkeit zur Laktoseverarbeitung beispielsweise nicht nur über eine Mutation des eigenen Erbguts erlangen, sondern auch indirekt über Bakterien im Verdauungstrakt. Solche Bakterien haben möglicherweise ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Milchwirtschaft in der Vorgeschichte gespielt^[@walter_human_2011].
### Entstehung und Wirkung von Innovationen: Cultural Complexity {#cultural-complexity}
In der biologischen Evolution entstehen neue Varianten durch Mutationen im Erbgut von Individuen. *Cultural Evolution* kennt dagegen eine ganze Reihe von Prozessen, die zur Entstehung von Innovationen verschiedener Größenordnungen führen können. Viele Modelle reduzieren diese Prozesse auf simple Zufallsereignisse oder die Interaktion eines Individuums mit seiner Umwelt^[@henrich_evolution_2003; @rendell_why_2010]. Andere bringen komplexere Mechanismen ins Spiel, wie die Verknüpfung bestehender Innovationen zu neuen^[@enquist_why_2008] und die Interaktion vieler Innovationen in einer schnellen, aufeinander aufbauenden Kettenreaktion von Kombination und Ableitung^[@fogarty_cultural_2015; @kolodny_evolution_2015; @kolodny_game-changing_2016]: Eine einzige Idee zieht möglicherweise viele andere nach sich. Der akkumulative Ablauf von Kulturentwicklung gehört zum Kern der *Cultural Evolution Theory*^[@basalla_evolution_1988; @boyd_culture_1985; @boyd_evolutionary_1988; @cavalli-sforza_cultural_1981; @durham_adaptive_1976; @feldman_gene-culture_1996; @henrich_evolution_2003; @lumsden_genes_1981]. In der prähistorischen und historischen Menschheitsentwicklung gibt es viele Ereignisse, die diesen Effekt nahelegen, etwa die explosionsartige Zunahme an Komplexität im Steingerätinventar am Übergang von Mittel- zu Jungpaläolithikum^[@bar-yosef_nature_1998; @roebroeks_time_2008] oder die neolithische Revolution im Vorderen Orient^[@gopher_when_2001; @veen_agricultural_2010].
Die Veränderung der Menge und Art kultureller Eigenschaften einer Population ist mit dem Begriff der *Cultural Complexity* Forschung verknüpft. Sie untersucht die Akkumulation und den Verlust von Innovationen (*Cultural accumulation* und *Cultural decay*) sowie *Gleichgewichtszustände* (*equilibria*) die in diesem Wechselspiel erreicht werden können. Dabei zeigt sich, dass die Innovationsverfügbarkeit in einer Population durch die Verschränkung der verschiedenen Ideen starken Schwankungen unterworfen ist, bis sie einen stabilen Zustand erreicht^[@kolodny_evolution_2015]. Innovationen können selbst Rückwirkungen auf die Systemdynamik ihrer Wirtpopulationen nehmen, indem sie zum Beispiel die Subsistenzbedingungen verändern und Bevölkerungswachstum oder -niedergang katalysieren^[@kolodny_game-changing_2016]. @crema_revealing_2016 eröffnen mit einer Fallstudie an neolithischer Keramik jedoch auch die Perspektive dafür, dass die Annahme von Gleichgewichtszuständen in archäologischen Kontexten grundsätzlich fragwürdig ist.
Das Ansammeln von Wissen und Kompetenz in einer Gruppe ist ein kumulativer Prozess, wobei ein vorhandener Innovationsfundus maßgeblich durch Rekombination und Ausbau vorhandener Ideen erweitert wird -- *Cumulative Cultural Evolution*^[@mesoudi_what_2018]. Weit über die archäologische Forschung hinaus relevant ist die Frage, welche Variablen die Intensität dieses Prozesses in welchem Umfang beeinflussen. Ein wichtiger Beitrag von Joseph Henrich^[@henrich_demography_2004] hat 2004 eine sehr dynamische und kontroverse Debatte dazu ausgelöst. Sein Modell identifiziert die *effektive Populationsgröße* als entscheidenden Parameter um die Innovationsrate in einer Population nachherzusagen: Eine Zunahme der Personen im sozialen Netzwerk steigert die Menge neuer Erfindungen, während ein Bevölkerungsrückgang zu Wissensverlust führt. Henrichs simple Simulation wurde schrittweise erweitert^[@KobayashiInnovativenesspopulationsize2012; @henrich_understanding_2016], relativiert^[@collard_population_2013, @BaldiniRevisitingEffectPopulation2015] und kritisiert^[@vaesen_population_2016]. Andere Parameter, die neben der Populationsgröße als wichtige Einflussfaktoren vorgeschlagen wurden, sind die Mobilität der Mitglieder einer Gruppe oder das Subsistenzrisiko durch naturräumliche Einflüsse^[@collard_what_2011; @collard_risk_2013; @buchanan_drivers_2016; @fitzhugh_risk_2001; @winterhalder_risk-senstive_1999].
Unabhängig davon welcher Effekt letztlich die größere Wirkung auf kulturelle Komplexität entfaltet, gibt es eindeutig einen Zusammenhang zwischen Kulturverhalten und demographischer Entwicklung einer Population^[@shennan_demography_2001]. Der Übergang von einer jäger- und sammlerischen Lebensweise zu Ackerbau und Viehzucht am Beginn des Holozän geht mit starkem Bevölkerungswachstum einher, was unter dem Stichwort der *Neolithic Demographic Transition* als eine der folgenreichsten Auswirkungen der Neolithisierung diskutiert wird^[@bocquetappel_paleoanthropological_2002; @gage_what_2009]. Neben Subsistenzpraktiken beeinflussen eine Vielzahl von Faktoren wie religiöse Normen, Heiratsgepflogenheiten oder gewaltsame Konflikte die Altersstruktur und das Wachstum einer Gesellschaft. Etliche davon reduzieren die Geburtenrate^[@smith_cultural_1992; @colleran_cultural_2016; @richerson_natural_1984] und wirken so stabilisierend auf das Mensch-Umwelt-System. Ein Phänomen dieser Art lässt sich im modernen China und in Teilen Indiens beobachten: Eine kulturelle Präferenz für männliche Nachkommen, die sich etwa durch selektive Abtreibung manifestiert, führt lokal zu einem asymmetrischen Überschuss von bis zu 6:5 von Männern gegenüber Frauen. Diese kulturell induzierte demographische Veränderung hat erwartungsgemäß schwerwiegende ökonomische Konsequenzen^[@banister_shortage_2004; @li_cultural_2000; @tuljapurkar_high_1995].
## Cultural Transmission {#cultural-transmission}
Die Ursprünge der *Cultural Transmission Theory* sind im klassischen *Diffusionismus* (siehe Kapitel \@ref(cultural-relativism-neoevolutionism)) und seinen etwas reiferen Ausprägungen nach der Fundamentalkritik der *Boasianer* zu suchen -- etwa bei Alfred Louis Kroeber (\*1876 -- \†1960) oder Wilhelm Koppers (\*1886 -- \†1961). Seitdem ist *Cultural Transmission* auch Gegenstand der archäologischen Fachdiskussion^[@lyman_cultural_2008; @shennan_evolution_2008]. Die Ausbreitung und Entwicklung von Ideen lässt sich getrennt voneinander erforschen, die Integration von *Cultural Transmission* in *Cultural Evolution* und *Dual Inheritance Theory* ermöglicht jedoch eine sinnvolle Verbindung der Perspektiven^[@eerkens_cultural_2007; @cavalli-sforza_cultural_1981, 53-54.]: Ideen breiten sich nicht zufällig aus, verändern sich nach erforschbaren Regeln und entfalten weitreichende Wirkung im sozialen Raum ihrer Träger. Kulturelle Evolution ist in hohem Maße Konsequenz von (fehlerhafter) Replikation in den sozialen Netzwerken, die *Cultural Transmission* erforscht. Zwischenmenschliche Kommunikation, entlang derer die Ausbreitung von Ideen abläuft, ist vielfältig und entwickelt auf unterschiedlichen Skalenniveaus unterschiedliche Relevanz. Grundsätzlich bewegt sich Information mit ihren Trägern, das heißt alle Prozesse, die zur Bewegung von Menschen im Raum führen, sind auch Prozesse, die zur Ausbreitung von Information führen. Zu *Cultural Transmission* müssen also alle Modi der Migration von der Völkerwanderung, über den Frauentausch in Heiratsnetzwerken bis hin zum alleine wandernden Händler und Handwerker gezählt werden. Daneben stehen Prozesse innerhalb kohärenter Gruppen, wie die Kindererziehung, Lehre und Ausbildung von einer Generation zur nächsten und der einfache Austausch von Information zwischen allen Mitgliedern einer Population wie er durch Sprache, Schrift und Imitation permanent stattfindet.
Einige der weitreichendsten Transformationsereignisse in der Geschichte der Menschheit, die zu einem tiefgreifenden Wandel der vorhandenen kulturellen Eigenschaften geführt haben, sind von Populationsbewegungen zumindest begleitet, wenn nicht sogar initiiert worden^[@boyd_voting_2009]. Der Neanderthaler wurde vor ca. 40.000 Jahren vollständig vom modernen Menschen verdrängt^[@skoglund_origins_2012], und mit ihm ging eine erste -- freilich in ihrer Dynamik umstrittene -- Phase kultureller Modernität zu Ende, die sich erst durch jüngste Forschungsergebnisse zu erschließen beginnt^[@hoffmann_symbolic_2018; @tuniz_did_2012]. Paläogenetische Ergebnisse legen nahe, dass die neolithische Revolution in Europa im wesentlichen von wandernden Siedlern aus dem Vorderen Orient getragen wurde, nicht von der Übernahme eines Innovationspakets durch lokale Jäger- und Sammlergruppen^[@aoki_travelling_1996; @bar-yosef_nature_1998; @patterson_modelling_2010; @skoglund_origins_2012]. Im fortgeschrittenen Neolithikum bis zum Beginn der Bronzezeit vollzog sich eine weitere genetische und kulturelle Transformation in Mitteleuropa infolge der Einwanderung berittener Steppenbewohner aus dem Yamnaya-Kulturkomplex^[@allentoft_population_2015; @goldberg_ancient_2017].
Populationsbewegungen dürfen nicht unterschätzt werden, sind aber gleichermaßen nicht für jede Form kulturellen Wandels verantwortlich. Eine ganzheitliche Perspektive muss in erster Linie versuchen die Prozesse innerhalb menschlicher Gesellschaften nachzuvollziehen -- einige Strukturen und Phänomene werden im folgenden unter den Stichworten *Social Learning* und *Biased Transmission* vorgestellt. Für die vorliegende Arbeit ist es von besonderem Interesse nachzuvollziehen, wie *Cultural Transmission* als Element der *Cultural Evolution Theory* in der archäologischen Forschung reflektiert und praktisch zur Anwendung gebracht wurde. Dazu sollen auf Grundlage der umfassenden Überblicksartikel von @eerkens_cultural_2007 und @garvey_current_2018-1 einige wesentliche Leitlinien und Beiträge besonders der vergangenen 30 Jahre nachgezeichnet werden.
### Trajektorien der Wissensvermittlung: Social Learning {#social-learning}
Menschen besitzen die ausgeprägteste soziale Lernfähigkeit unter allen bekannten Spezies. Aus anthropozentrischer Perspektive betont das die menschliche Besonderheit, jenseits davon erweckt es aber durchaus Zweifel an der Qualität dieses Merkmals:
> What is so *wrong* with culture that it should be really conspicuous in only one species?
>
> -- @smith_cultural_1992, 70.
Möchte man Fragen nach Entstehung und Ablauf von *Cultural Transmission* nicht mit einem Hinweis auf evolutionäre Zufälle abtun, muss man einerseits die Natur des Selektionsdrucks untersuchen, der die enorme Intensivierung von Imitation ursprünglich begünstigt hat, und andererseits Prozesse der Wissens- und Ideenvermittlung beobachten, kategorisieren und quantifizieren. *Social Learning* ist der Überbegriff für alle Mechanismen der Übertragung von Ideen und Verhalten von einem Organismus auf den nächsten^[@eerkens_cultural_2007; @rendell_cognitive_2011]. Prominente Methoden zur Erforschung von *Social Learning* sind soziale Experimente mit Menschen unter konstruierten Bedingungen, mathematische Modelle auf Populationsniveau und -- gegebenenfalls agentenbasierte -- Computermodelle.
Soziales Lernen steht neben genetischer Vererbung und individuellem Lernen. Während individuelles Lernen große Flexibilität mit sich bringt, dafür aber auf das Individuum begrenzt ist, wirkt genetische Vererbung nur auf dem Populationsniveau und damit gemessen an der Lebensspanne des Einzelnen sehr langsam. Soziales Lernen steht zwischen diesen Polen und erlaubt sowohl kurzfristige und kleinräumige, als auch langfristige, kumulative und populationsweite Anpassung. Während individuelles Lernen und Experimentieren viel Zeit und Energie in Anspruch nehmen kann, kann soziales Lernen Wissen über einen Sachverhalt unmittelbar und risikoarm transportieren^[@rendell_rogers_2010]. Gefährliche Fehler beim individuellen Lernen, die durch die für den Einzelnen geringe Anzahl von Experimentdurchläufen häufig sind, können durch soziales Lernen vermieden werden^[@boyd_evolution_1988]. Es ist dafür allerdings anfällig für schnelle und schnell aufeinanderfolgende Veränderungen der natürlichen Umweltbedingungen, da gegebenenfalls ein unangepasstes Verhalten traditionell weitergeführt wird^[@rogers_does_1988; @spencer_human_1993]. Vergleicht man eine Kombination von genetischer Anpassung und individuellem Lernen einerseits mit einer Kombination von sozialem und individuellem Lernen andererseits, dann führen erstere nur dann zu besserer Anpassung, wenn die Umgebung nahezu unverändert bleibt oder sich enorm schnell und völlig zufällig verändert. In den Fällen zwischen diesen Extrema ist soziales Lernen überlegen^[@boyd_culture_1985, 117-128.]:
> A cultural system of Inheritance combining individual and Social Learning ought to provide adaptive advantages in environments with an intermediate degree of environmental similarity from generation to generation. This is the regime where the faster tracking due to the evolutionary force of cumulative, relatively weak, low-cost individual learning pays off most. Most individuals can depend primarily on tradition, yet the modest pressure of individual learning is sufficient to keep culture "honest".
>
> -- @smith_cultural_1992, 73.
Zur Charakterisierung der zwischenmenschlichen Informationsübertragung grenzen @cavalli-sforza_cultural_1981 in Anlehnung an Begriffe aus der Epidemiologie drei Formen des Sozialen Lernens voneinander ab: *Vertical Transmission*, *Horizontal Transmission* und *Oblique Transmission*^[@cavalli-sforza_cultural_1981, 53-59].
*Vertical Transmission* meint die Übertragung von Wissen, Ideen, Verhalten und kultureller Eigenschaften von Eltern zu Kind. Diese Übertragungsform spielte wahrscheinlich in der Menschheitsgeschichte die mit Abstand größte Rolle, bedenkt man, dass die wildbeuterische Lebensweise in kleinen Gruppen für einen überragend langen Zeitraum die einzige relevante Form des menschlichen Zusammenlebens darstellte. Geschlechtsspezifische Arbeitsverteilung in einer Gesellschaft kann dazu führen, dass die Informationsübertragung *uniparental* abläuft, in vielen Fällen spielt jedoch zwangsläufig ein Einfluss von beiden (oder mehreren) Elternteilen eine Rolle darin, wie ein Verhaltensmuster tradiert wird. Obgleich die Elternrolle meist mit biologischer Elternschaft einhergeht, ist vertikale Ideenvererbung nicht an sie gebunden: Andere denkbare Beziehungen sind Stief- oder Adoptivelternschaft, wenn es zu einer dauerhaften Verlagerung der Erziehungsrolle kommt. Vertikale Beziehungen sind nicht nur aufgrund von biologischer Äquivalenz und Erziehung relevant: Eltern vererben oft auch ihren sozialen Rang, ihr Vermögen, Privilegien und Abhängigkeiten^[@mulder_intergenerational_2009]. Dieser Umstand erhöht die Bedeutung dieser Übertragungslinie in menschlichen Populationen noch weiter. Geht man von einem klassischen Modell der *Life History Theory* aus, das Populationsentwicklung auf Grundlage von sich reproduzierender Altersklassen beschreibt^[@leslie_further_1948] und erweitert es um kulturelle Merkmale und Transmission, dann ergeben sich bemerkenswerte Simulationsergebnisse^[@coratenuto_age_1989; @fogarty_role_2013]: Sogar Verhaltensmuster, die die Reproduktionsfähigkeit eines Individuums reduzieren, können bei ausreichend starker, vertikaler Übertragungsfähigkeit dauerhaft relevant bleiben. Das gilt besonders dann, wenn eine Idee zwar die Reproduktionsfähigkeit reduziert, gleichzeitig aber die Überlebenschance des Individuums erhöht.
Cavalli-Sforza und Feldman trennen zwischen *Horizontal Transmission* und *Oblique Transmission*. Ersteres bezieht sich auf Übertragung innerhalb einer Generation, während letzteres jene Generationsgrenzen überschreitenden Beziehungen bezeichnet, die unter die Elternschaft fallen. Mit diesen beiden Begriffen lassen sich viele unterschiedliche Formen der zwischenmenschlichen Beziehung bezeichnen. Potentielle Gegenüberkategorien sind Familien- oder nicht biologisch verwandte Gruppenmitglieder der Elterngeneration (Tanten und Onkel gegenüber Neffen und Nichten, Freunde der Kernfamilie, Nachbarn), Großeltern (und Enkel) und Mitglieder der Großelterngeneration(en), Geschwister, Cousins und Cousinen, Mitglieder der selben Altersgruppe bzw. Generation (Freunde, Nachbarn, Kollegen, romantische Partner), Lehrer, politische Führer. Jede dieser Kategorien bringt eigene Besonderheiten mit sich: Enge Familienmitglieder können mitunter das selbe Niveau der Einflussnahme wie die biologischen Eltern erreichen, Beziehungen zwischen Angehörigen der selben Altersgruppe fallen je nach Rang- und Persönlichkeitskonfiguration höchst unterschiedlich aus, Lehrer und soziopolitische Führer erreichen mit ihren Ideen ein größeres Publikum^[@fogarty_evolution_2011] oder können sogar die Akzeptanz ihrer Botschaft durch Druck oder Manipulation erzwingen. Das Beziehungsgeflecht einer menschlichen Population wird darüber hinaus weiter kompliziert durch Gruppengliederung: Menschen formen räumlich oder sozial zusammengehörige Einheiten, wobei sich Gruppengrenzen vielfach überschneiden können. Horizontaler und schräger Austausch von Ideen ist günstig um einem Individuum möglichst viel Auswahl an Strategien zur Verfügung zu stellen, aus denen es zur Lösung von Problemen wählen kann. Umso stärker diese nicht-vertikalen Formen der *Cultural Transmission* in einer Gesellschaft ausgeprägt sind, desto größer ist die Diversität, die schon innerhalb eines Haushalts angetroffen werden kann^[@shennan_genes_2002] und desto mehr verschiebt sich der Selektionsdruck zugunsten von sozialen Führungsrollen wie die von Lehrern, Priestern oder Großeltern^[@macdonald_subsistence_1998]. Elternschaft kann demgegenüber ins Hintertreffen geraten. Ein solches Verhaltensmuster ist für genetische Selektion gegebenfalls ungünstig, da Kinder unter diesen Umständen nicht die biologische Reproduktion, sondern andere Lebensmodelle anstreben können^[@smith_cultural_1992].
Cultural Transmission mittels *Social Learning* läuft stets über viele Kanäle gleichzeitig ab, dass heißt die Reduktion einer Fragestellung auf entweder vertikale oder horizontale Übertragung bedeutet meist eine zu starke Vereinfachung. Das erschwert die Anwendung methodischer Werkzeuge der Evolutionsbiologie wie beispielsweise die *Phylogenetischen Bäume* der *Kladistik* auf kulturhistorische Zusammenhänge. Umgekehrt können die Ergebnisse dieser Methoden Abschätzungen dazu erlauben, in welchem Umfang Vertikale, Horizontale oder Schräge Transmission zur Erklärung eines Phänomens geeignet sind^[@jordan_cultural_2003; @mcclure_cultural_2004; @mcclure_gender_2007; @tehrani_investigating_2002]. Die Komplexität und Variabilität von Informationsvererbungssystemen legt nahe, dass nur ein moderner, archäologischer Kulturbegriff^[@furholt_nordlichen_2009, 21-26.], der die vielfältige Verknüpfung von Individuen innerhalb und über ethnische und soziale Grenzen hinweg respektiert, zur Kategorisierung menschlicher Gesellschaften geeignet sein kann^[@lipo_science_2001; @lipo_population_1997; @palmer_tools_2005; @palmer_cultural_1995-1; @palmer_categories_1997; @mcelreath_shared_2003].
Eine weitere problematische Vereinfachung, die im Rahmen der *Cultural Transmission* Forschung in aller Regel vorgenommen wird, um Realweltphänomene in Modellen abbilden zu können, betrifft die Modi der Wissensspeicherung. Vereinfacht werden Menschen als Aufnahmesysteme beschrieben, die eine Vielzahl von distinkten Ideen tragen können^[@mithen_cognitive_1997]. Tatsächlich ist die Informationsspeicherung im menschlichen Gehirn wesentlich komplizierter und funktioniert mittels intensiver, assoziativer Verschaltung von Ideen. Selbst in der Evolutionsbiologie wurde eine vollständig isolierte Betrachtung von Genen als *Bean Bag Genetics* verworfen^[@de_winter_beanbag_1997; @mayr_where_1959]. Wie, wie schnell und mit welchen Konsequenzen Menschen neue oder alte Ideen aufnehmen, verarbeiten, zur Anwendung bringen und weitergeben hängt in hohem Maße von ihrer kulturellen Gesamtkonfiguration ab, die als allgemeine Weltsicht die Summe ihrer Erziehung und Erfahrungen spiegelt^[@gabora_ideas_2004; @sperber_explaining_1996]. Das hat zur Konsequenz, dass Menschen, die zusammen leben und intensiven Austausch pflegen, ähnliche und sich selbst verstärkende Weltsichten aufbauen, Ideen und Innovationen auf ähnliche Art und Weise verarbeiten und kumulativ in ihre bisherige Vorstellungswelt integrieren^[@eerkens_cultural_2007; @basalla_evolution_1988].
Ebenso wie die Speicherung von Ideen im Gehirn ist auch die Übertragung von kultureller Information von einem Menschen zum anderen komplex und kann auf etliche verschiedene Weisen ablaufen. Die Komplexität der einzelnen Idee, das Medium über das sie transportiert wird, die Art und Anzahl der Wiederholungen, denen ein Individuum durchschnittlich ausgesetzt ist und schließlich ihre innere Struktur nehmen Einfluss auf ihre Verbreitung in einer Population. Komplexität drückt sich -- technisch besehen -- in der Länge einer Informationseinheit aus. Die Fehlerwahrscheinlichkeit bei der Übertragung langer Datenketten nimmt statistisch zu^[@eerkens_cultural_2007], dass heißt die Übertragung komplexer Ideen ist stärker mutationsanfällig, besonders wenn kein objektives Korrektiv durch die funktionale Anwendung einer Kulturinformation besteht. Das Medium der Informationsübertragung (verbale Erklärung, praxisnahe, visuelle Veranschaulichung, Schrift) und die damit verknüpfte sensorische Bandbreite spielen eine wichtige Rolle darin, in welchem Umfang Gelerntes von Menschen wiedergegeben werden kann^[@eerkens_cultural_2005; @eerkens_practice_2000; @eerkens_techniques_2001]. Information, die in vielen Wiederholungen präsentiert wurde, kann tendenziell besser gemerkt werden^[@cover_elements_2012; @shannon_mathematical_1949]. Die Übertragung von Information zwischen Menschen hat nicht nur Mutation zur Folge, sondern auch Restrukturierung und Hierarchisierung: Menschen abstrahieren Informationen und können Daten mit sozialen Bezügen und Daten aus vertrauten, kulturellen Umständen besser verinnerlichen^[@mesoudi_hierarchical_2004; @mesoudi_bias_2006; @washburn_remembering_2001]. Das ist sicher ein Grund dafür, warum soziale und religiöse Systeme sich selbst reproduzieren und so über lange Zeit Bestand haben können^[@kuijt_people_2000; @kuijt_place_2001].
### Entscheidungsprozesse der Ideenadoption: Biased Transmission {#biased-transmission}
Die Intensität und Dauerhaftigkeit der Verbreitung einer Idee in einer Gesellschaft ist chaotisch und nicht mit Sicherheit vorhersagbar. Dennoch lassen sich Effekte beschreiben, die wesentlichen Einfluss auf den Erfolg und die Übertragungskorrektheit von Innovation haben. Menschen treffen die Entscheidung ob sie eine Idee oder ein Verhaltensmuster übernehmen nicht zufällig. Stattdessen evaluieren sie oft sowohl wen als auch was sie in der jeweiligen Situation imitieren. Um so leichter es ist, die Vor- oder Nachteile verschiedener Verhaltensmuster zu erkennen, desto schneller kann die Entscheidung für oder gegen einzelne getroffen werden. Die Konsequenz des Evalutationsverhaltens ist *Biased Transmission*^[@henrich_cultural_2001]. Ihr Gewicht nimmt zu, wenn dem Einzelnen durch mehr kulturelle Vielfalt eine größere Auswahl unterschiedlicher Verhaltensmuster zur Verfügung steht^[@smith_cultural_1992].
> The essential character of Biased transmission is that information may come from different sources within a population in spite of being transmitted in a similar direction and involving the same number of people.
>
> -- @eerkens_cultural_2007, 251.
Gleichzeitig treffen Menschen selbst komplexe Entscheidungen jedoch oft auf Grundlage stark vereinfachter Faustregeln. Die investierte Mühe ergibt sich als Kompromiss zwischen der erwarteten Belohnung einer richtigen Entscheidung und den Kosten der Informationssammlung^[@nisbett_human_1980]. Eben weil damit nicht viel Kapazität für nicht drängende Entscheidungen übrig bleibt, ist Kultur im wesentlichen ein Vererbungssystem. Ein großer Teil der Glaubens- und Moralvorstellungen eines Individuums hat es von anderen übernommen, ohne sie zu hinterfragen. Aus diesem Grund sind Modellimplementierungen, die den Prozess der Informationsweitergabe als zufälliges Kopieren beschreiben, durchaus berechtigt -- und zahlreich^[@bentley_academic_2006; @bentley_cultural_2003; @bentley_random_2004-1; @hahn_drift_2003; @herzog_random_2004; @lipo_science_2001; @lipo_population_1997; @neiman_stylistic_1995; @shennan_ceramic_2001].
Soziales Lernen kann zur Konsequenz haben, dass schädliches -- also für genetische Reproduktion ungeeignetes -- Verhalten unter positiven Selektionsdruck gerät und sich verbreitet^[@eerkens_cultural_2007; @enquist_evolution_2007]. Genetische Disposition und individuelles Lernen können diesem Effekt entgegenwirken. Wenn etwa eine strenge Religion Prüderie und Abkehr vom Weltlichen propagiert, kann sexuelles Verlangen und Kinderliebe der familienverneinenden Ideologie entgegenwirken. Oft sind die Vor- und Nachteile einer Verhaltensform für den Einzelnen oder die Gesamtpopulation allerdings nicht so offensichtlich. Die genetische Anlage des Menschen sieht für komplexes Kulturverhalten keine adäquate Reaktion vor und der Einzelne ist mit der Evaluation vieler Fragen überfordert.
> The natural world is complex, hard to understand, and variable from place to place and time to time. Is witchcraft effective? What causes malaria? What are the best crops to grow in a particular location? Are natural events affected by human pleas to their governing spirits? [...] What sort of person(s) should one marry? What mixture of devotion to work and family will result in the most happiness or the highest fitness?
>
> -- @smith_cultural_1992, 79.
Menschen zeigen die Tendenz, das Verhalten erfolgreicher Menschen oder einzelne, erfolgreiche Strategien zu übernehmen^[@henrich_evolution_2003]. Zwar ist das Modell eines Homo Ökonomikus, der stets die rational beste Entscheidung in einer gegebenen Situation trifft, zu einfach, dennoch spielt die Verbesserung der eigenen Situation nach unterschiedlichen Kriterien eine wichtige Rolle bei Entscheidungsprozessen^[@mesoudi_cultural_2008; @mesoudi_experimental_2011]. Die klassische *Diffusion of Innovation* Forschung identifiziert den individuell wahrgenommenen Vorteil als wesentliches Kriterium zur Übernahme oder Ablehnung einer Neuerung^[@rogers_diffusion_1983]. Aus der Perspektive der Behavioural Ecology kann argumentiert werden, dass das Nervensystem hinreichend komplexer Lebewesen grundsätzlich Verhaltensweisen bevorzugt, die zu positiven Stimuli führen. Das sind oft gleichzeitig jene, die für die Anpassung an eine Umgebung förderlich sind. Biologisch oder durch vormalige Lernprozesse determinierte Lernregeln führen in einem Prozess von *Guided Variation* zur Selektion von Verhaltensmustern^[@smith_cultural_1992]. Dieser postulierte Automatismus besitzt Implikationen für eine mögliche biologische Selektionswirkung von Innovationen: Imitation kann den Untergang einer Population in Krisensituationen verhindern oder zumindest die Anpassung an Umweltveränderungen erheblich beschleunigen und so den mit biologischer Selektion oft verbundenen Bevölkerungsrückgang vermeiden.
Ein Dualismus von Konformität (*Conformity Bias*) und Neugierde (*Novelty Bias*) ist entscheidend dafür, ob und wie Innovationen sich in einer Population verhalten. Menschen neigen besonders in Phasen von Stabilität dazu^[@henrich_evolution_1998; @kendal_evolution_2009], das Verhalten einer Bevölkerungsmehrheit zu übernehmen^[@bikhchandani_learning_1998; @efferson_conformists_2008; @giraldeau_social_1994; @henrich_evolution_1998; @heinrich_why_2001; @smith_conformity_1994]. Dieser *Frequency Bias* hat zur Konsequenz, dass sich Ideen, die ohnehin schon weit verbreitet sind, weiter stabilisieren können und Neuerungen, die in direkter Konkurrenz zu vorhanden Konzepten stehen, nur langsam an Relevanz gewinnen oder verschwinden: Ein sich selbst verstärkendes System. Insbesondere Ideen, die nicht direkt subsistenzrelevant sind, sind in ihrer momentanen Ausbreitungsdynamik stark davon abhängig, wie groß die Verbreitung der Idee in der Population bereits ist. Eindrucksvolle Beispiele dafür sind unter anderem Kleidermode oder Babynamen^[@acerbi_biases_2014; @acerbi_logic_2012]. Ist eine Population in teilweise isolierte Gruppen aufgeteilt, erwirkt ein starker Frequency Bias Homogenität innerhalb und Heterogenität außerhalb von Gruppen. Die bei biologischer Evolution umstrittene *Group Selection* kann damit im Kontext von *Cultural Evolution* durchaus Wirkung entfalten^[@smith_cultural_1992].
Trotz des Frequency Bias brechen Individuen jedoch manchmal bewusst aus dem Verhalten der Mehrheit aus^[@henrich_evolution_2003]. Als Konsequenz des Widerstreits dieser Pole folgt die Verbreitung kultureller Eigenschaften oft einer logistischen, S-förmigen Wachstumskurve^[@henrich_cultural_2001]. Neue Ideen werden zunächst von einigen, meist wohlhabenden und gut gebildeten *Innovators* eingeführt bis die ökonomisch empfindlichere *Majority* sie übernimmt und nur wenige konservative *Laggards* zurücklässt, die sich der Neuerung bewusst verweigern^[@rogers_diffusion_1983].
In archäologischen Zusammenhängen wird häufig über den Einfluss sozialer Eliten auf das Verhalten einer Gesamtpopulation diskutiert: *Prestige Bias*. Tatsächlich tendieren Menschen dazu, soziale höher gestellte Vorbilder zu wählen und sie zu kopieren^[@barkow_prestige_1975; @henrich_evolution_2001; @schlag_why_1998]. Gerade arme und schlecht gebildete Gruppen orientieren sich oft an Führungspersonen, die über mehr Risikokapital verfügen, das sie für die Evaluation von Innovationen investieren können. Dieses Kopierverhalten lässt sich experimentell bereits an Kleinkindern beobachten, die sich an jenen Erwachsenen orientieren, die die verstärkte Aufmerksamkeit anderer Erwachsenen genießen^[@chudek_prestige-biased_2012]. *Prestige Bias* führt auch zu *Indirect Bias*: Menschen wählen ihre Vorbildern oft aufgrund weniger auszeichnender Charakteristika aus. Sie neigen auch dazu, neben den ursprünglich ausschlaggebenden Eigenschaften weitere Verhaltensmuster des Vorbilds zu übernehmen. Das hat zur Konsequenz, dass Konzepte, die für sich genommen keine oder nur geringe Ausbreitung erfahren würden, mit anderen Ideen transportiert werden^[@obrien_style_2003]. Einerseits kann dank dieser Tendenz mehr Information schneller verbreitet werden, andererseits können sich so auch Ideen durchsetzen, die ihrem Träger keinen Vorteil oder sogar Nachteile bringen können. Trotz dieses Risikos kann es evolutiv sinnvoll sein, einfach das gesamte Verhalten erfolgreicher Individuen zu übernehmen -- ohne kostenaufwändige Reflektion darüber, welche Muster genau den Erfolg herbeiführen^[@smith_cultural_1992]. Auch in der Genetik wurde das Phänomen evolutiv überflüssig tradierter DNS-Sequenzen beobachtet: *Junk DNA*^[@doolittle_selfish_1980; @gibbs_unseen_2003; @orgel_selfish_1980].
> If wealth partly derives from subsistence or social skills that can be acquired by imitation, it makes adaptive sense to imitate the wealthy. The assumption that wealth is correlated with adaptive behavior is perhabs generally correct; if so it would be sensible to imitate wealthy people even if it is not always very clear just what components of wealthy people's behavior are adaptive.
>
> -- @smith_cultural_1992, 81.
Soziale Hierarchien und Prestigesysteme können als Hilfsmittel dienen, um zu entscheiden, welche Eigenschaften und Verhaltensweisen übernommen werden sollten^[@rogers_diffusion_1983]. Information von Autoritätspersonen oder -einrichtungen, sowie Information, die unter dem Siegel der Geheimhaltung übermittelt wird, wird mehr Bedeutung beigemessen und statistisch fehlerärmer weitergegeben^[@rowlands_role_1993]. Der situative Kontext in dem eine Information vermittelt wird hat generell großen Einfluss auf die Korrektheit der Übertragung und darauf, ob die Empfänger sie als eigenes Wissen übernehmen^[@barth_cosmologies_1990; @barth_guru_1990; @labov_principles_1994; @whitehouse_memorable_1992].
Grundsätzlich werden bevorzugt Menschen imitiert, die lokal präsent sind und in ähnlichen Umständen leben wie der Imitierende. *Homophily*, die Präferenz mit gleichgesinnten Menschen zu interagieren, erstreckt sich auf jede Form zwischenmenschlicher Beziehung: Ideen werden grundsätzlich schneller zwischen Individuen mit ähnlichem Weltbild übertragen^[@centola_experimental_2011; @centola_spread_2010, @schlag_why_1998]. Ein Phänomen, das in diesem Zusammenhang für vertikale Transmission besondere Relevanz besitzt, ist *Assortative Paarung* (*Assortative Mating*). Partnerwahl beim Menschen ist kein zufälliger Prozess, sondern folgt statistisch einem erforschbaren Regelwerk. Beispielsweise neigen Individuen bei der Partnersuche zu Gegenübern mit hoher Ähnlichkeit körperlicher und kultureller Merkmale. Ein Nachweis dieses Effekts gelang in modernen Kontexten bei Charakteristika wie Augenfarbe, Körpergröße, IQ, Bildungsstand und Tabakkonsum^[@domingue_genetic_2014; @keller_genetic_2013; @laeng_why_2007; @treur_spousal_2015]. Assortative Paarung führt zu höherer Korrelation genetischer und kultureller Eigenschaften in einer Population und kann dennoch mehr Vielfalt hervorrufen^[@feldman_evolution_1977; @rice_multifactorial_1978]: Seltene Eigenschaften können sich leichter ausbreiten und behaupten^[@creanza_complexity_2014; @creanza_models_2012]. Assortativer Paarung ist dabei auch ein sich selbst verstärkender Prozess, da aus Beziehungen ähnlicher Partner statistisch mehr Kinder hervorgehen^[@thiessen_human_1980] und soziale Netzwerke dazu neigen, sich zu reproduzieren^[@abdellaoui_association_2013; @abdellaoui_educational_2015]. Das hat auch Rückwirkungen auf die genetische Zusammensetzung von menschlicher Populationen^[@robinson_genetic_2017]. Sprachgrenzen können dabei als wesentliche Hürde beim genetischen Austausch auftreten^[@barbujani_zones_1990; @de_filippo_y-chromosomal_2011; @karafet_coevolution_2016], müssen es aber keinesfalls^[@hunley_gene_2005; @hunley_genetic_2008; @srithawong_genetic_2015].
### Cultural Transmission und Archäologie: Stylistic Variability, Kladistik und Simulation {#stylistic-variability}
Cultural Transmission greift eine Kernidee der Wissenschaft Archäologie auf: Ähnlichkeit zwischen Artefakten eines kulturhistorischen Zusammenhangs in Raum- und Zeit können dadurch erklärt werden, dass sie als Teil einer von Generation zu Generation übermittelten Fertigungstradition im diachronen, sozialen Gefüge einer Gesamtpopulation verstanden werden müssen^[@lyman_culture_2001; @lyman_measuring_2000; @lyman_rise_1997; @obrien_epistemological_2002]. Die Perspektive, die *Cultural Transmission* Theory auf diesen Sachverhalt eröffnet, hat bemerkenswerte Forschung ausgelöst, aber auch berechtigte Kritik hervorgerufen. Letztere greift bei einzelnen Parametern an, die bisher von *Cultural Transmission* Modellen vernachlässigt wurden^[@dobres_creativity_2000], verwirft die Vorstellung der isolierten Betrachtung von Ideen und Kulturentwicklung rundweg^[@mithen_cognitive_1997] oder stellt die praktische Nutzbarkeit des Paradigmas in Frage^[@dunnell_archaeology_1992; @schiffer_memes_2003]. Eine Forschungsrichtung, die diesen Vorwürfen eine vielversprechende Debatte entgegenstellt und für die vorliegende Arbeit besondere Relevanz besitzt, kann mit dem Schlagwort *Stylistic Variability* überschrieben werden.
1978 formulierte Robert Dunnell in einem Beitrag^[@dunnell1978style] eine schon zuvor diskutierte^[@eerkens_cultural_2007] und im folgenden intensiv aufgegriffene Unterscheidung: In archäologischen Kontexten und über lange Zeiträume müssten Ideen und Verhaltensmuster in zwei Kategorien unterschieden werden -- *Funktion* (*functions*) und *Form* (*style*). Funktionale Ideen, wie das Wissen um die Nutzung einer bestimmten Getreideform, die Kompetenz bestimmte Werkzeuge oder Waffen zu fertigen oder soziale Anerkennung von Kinderreichtum sind unmittelbar selektionsrelevant. Hier greift die biologische Evolution, die anhand der Überlebensrate in Krisensituationen oder schlicht der demographischen Entwicklung dahin wirkt, bestimmte Ideen über ihre Träger zu begünstigen. Diesen Ideen steht eine Vielzahl anderer entgegen: *Neutral Traits*, die nicht unmittelbar selektionsrelevant sein sollten, so wie Keramikverzierung, Trachtmode oder Schmuckform. Das Überleben oder die Fortpflanzungsfähigkeit einer Population sind normalerweise nicht von der Natur der geometrischen Muster auf ihren Vorratsgefäßen abhängig. Dennoch durchlaufen diese Merkmale eine teilweise atemberaubend schnelle Entwicklung und erlauben Archäologen Einblicke in Relativchronologie und Sozialstruktur. Sie würden, so Dunnell, im Kontext der Evolutionary Archaeology trotz ihrer genetisch untergeordneten Schlagkraft besondere Relevanz verdienen -- und ein dediziertes Methodenset: Dunnell postuliert, dass funktionale Ideen unter Beachtung ihrer Adaptionsqualität modelliert werden könnten, während stilistische Ideen im wesentlichen zufälligen, stochastischen Prozessen (*Neutral Transmission*) folgen würden.
Dunnells Unterscheidung passt sich gut in den weiteren Kontext der *Dual Inheritance Theory* (siehe Kapitel \@ref(evolutionism-modern-theories)) ein und wurde vielfältig aufgegriffen und erweitert^[@lipo_population_1997; @lipo_science_2001; @lyman_measuring_2000; @neiman_conspicuous_1997-1; @neiman_stylistic_1995; @rindos_darwinian_1985; @rindos_undirected_1989; @rogers_natural_2008; @shennan_ceramic_2001; @teltser_culture_1995]. Tatsächlich sind jedoch auch die meisten *Neutralen Varianten* harten Selektionskriterien nicht gänzlich erhaben: Ihre Erstellung verursacht in unterschiedlichem Umfang Kosten in Hinblick auf Arbeitszeit und Material^[@meltzer_study_1981]. Da die Unterscheidung stilistischer und funktionaler Merkmale nicht immer offensichtlich ist^[@bettinger_style_1996], kann es erforderlich sein, die funktionale Nützlichkeit verschiedener Varianten mit Experimenten und anderen Methoden der Ingenieurswissenschaften zu vergleichen^[@kornbacher_building_2001; @obrien_evolutionary_1994; @obrien_variation_1990; @pfeffer_engineering_2001-1; @wilhelmsen_building_2001]: Je ähnlicher die Nützlichkeit aller verfügbaren Varianten in einem Kontext, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich relativ zueinander selektiv neutral verhalten.
Fraser Neimans Artikel *Stylistic Variation in Evolutionary Perspective: Inferences from Decorative Diversity and Interassemblage Distance in Illinois Woodland Ceramic Assemblages*^[@neiman_stylistic_1995] ergründet die von Dunnell vorgeschlagenen stochastischen Prozesse und erarbeitet ein einfaches Framework für die Simulation der Ausbreitung nicht funktionaler Ideen. Dabei werden die wesentlichen Phänomene *Drift* und *Flow* (bei Neiman: *intergroup transmission*) aus der Populationsgenetik in die Archäologie eingeführt und zur Interpretation von Kulturdistanzen zwischen indianischen Keramikinventaren genutzt. Neimans Beitrag wurde in der Fachwelt sehr intensiv rezipiert^[Microsoft Academic listet im Augenblick 393 Referenzen auf Neimans Artikel -- https://academic.microsoft.com/#/detail/2316012851 [27.8.2018]]. Genannt werden können Carl Lipos Arbeiten zu Keramik im Mississippi-Unterlauf, die *Cultural Transmission* Simulation sinnvoll mit klassischer archäologischer Seriation verknüpfen^[@lipo_community_2001; @lipo_neutralitystyle_2001; @lipo_population_1997; @lipo_science_2001], Shennans Untersuchung der technologischen Entwicklung von linearbandkeramischer Keramik im Merzbachtal^[@bentley_cultural_2003; @shennan_ceramic_2001] oder Timothy Kohlers Analyse von Formenvielfalt und ihrer Rolle als Proxy zum prähistorischen Gesellschaftsgefüge im Südwesten der USA, wiederrrum an Keramik^[@kohler_vessels_2004-1]. Auch für die Erstellung der Simulation dieser Arbeit war sein Beitrag eine wesentliche Inspiration (siehe Kapitel \@ref(simulation-theorie)).
Evolutionary Archaeology hat -- parallel zur Weiterentwicklung der Wissenschaft Archäologie^[@kristiansen_towards_2014] -- in den vergangenen 15 Jahren an Dynamik gewonnen. Die jüngsten Entwicklungen belegen, dass sie wie kaum ein anderer archäologischer Fachbereich das wissenschaftliche Ideal einer stufenweisen, theoretischen Weiterentwicklung von einem Beitrag zum nächsten erfüllt. Während Neiman das Konzept seiner Simulation aus der Populationsgenetik entlehnte, wurde von anderen Methodik zur Erstellung und Untersuchung *phylogenetischer Bäume* aus der *Kladistik* auf archäologische Fragestellungen angewandt^[@bentley_cultural_2003; @boyd_are_1997; @crema_culture_2014; @gray_pleasures_2007; @lipo_mapping_2006; @lycett_multivariate_2017; @mace_evolution_2005; @obrien_cladistics_2001; @obrien_design_2016; @obrien_innovation_2014; @obrien_phylogenetics_2008; @obrien_two_2002; @prentiss_cultural_2015; @tehrani_investigating_2002; @watts_cultural_2016]. *Stylistic Variability* ist eine vielversprechende Grundlage für Modellbildung hinsichtlich kultureller (in Abgleich zu räumlicher) Distanz^[@bettinger_evolutionary_1997; @bettinger_point_1999; @eerkens_cultural_2008-1; @eerkens_techniques_2001; @porcic_exploring_2015; @porcic_simulating_2014]. Das *Bayes-Theorem* hat sich als potentes statistisches Werkzeug zur Modellanalyse- und Evaluation offenbart^[@crema_approximate_2014; @crema_revealing_2016; @dutta_bayesian_2018; @kandler_generative_2015; @kandler_generative_2018]. Archäologische Datensätze und ihre Besonderheiten für die *Cultural Evolution* Forschung werden heute strenger hinterfragt und bewusster analysiert^[@brantingham_detecting_2010; @cochrane_evolutionary_2009; @de_voogt_production_2015; @perreault_impact_2011; @perreault_time-averaging_2018] -- jenseits der anekdotischen Evidenz.
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